Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
Vom Netzwerk:
Überraschung war groß, als ich das Grün erfand. Meine Urteile fielen oft kategorisch aus, gleichwohl ließ ich mich bereitwillig beeinflussen. Ich war das jüngste der Geschwister und dennoch derjenige, an den man sich wandte. Oh, was habe ich gerne gelacht! Kein Geräusch ergriff mich so wie das des Meers. Es war Herzschlag, Donner, Flüstern. Manchmal schien meine Brust voller Schmetterlinge zu sein. Wenn mir Menschen auf die Nerven gingen, versäumte ich es nicht, dies zu zeigen. Jedes Kind bekam seinen Kosenamen: Sabuschkin, Kalle, September ... Du warst Laika. Wenn ich zornig wurde, geschah es, dass ich die Hand hob. Bei der Erinnerung daran wird mein Arm immer noch schwer. Je süßer die Baklava, desto besser. Nichts interessierte mich mehr als Körper. (Frag deine Mutter.) Ich verließ mich auf niemanden, trotzdem war ich naiv. Sport betrachtete ich als eine schwedische Krankheit. Wenn meine Gefühle faul waren, stand der Stolz an erster Stelle, wenn sie sich vertieften, bedeutete Verständnis alles. Es gab Menschen, die ich nie verstand, obwohl die meisten von ihnen meine Freunde wurden. Ich schrieb, leider, schlampig. Ich wünschte, ich wäre sorgsamer gewesen. Einzig die Schande ertrug ich nicht, weder die eigene noch die anderer. Auslassungen waren für mich heimliche Wahrheiten, und vielleicht Trauer. Ich kam selten zu früh, dagegen oft zu spät – die Uhr war ein Freund. Der Alkohol hat niemals mein Interesse geweckt. Noch im hohen Alter wollte ich gut aussehen, deshalb trug ich den Trenchcoat nicht zugeknöpft, sondern mit einem Knoten im Gürtel. Manchmal merkte ich erst, dass ich bei den Menschen Gefühle geweckt hatte, wenn es fast zu spät war. Ich mochte meinen Bauch, so glatt wie eine Birne. Die Sonne interessierte mich wesentlich mehr als der Mond. Ich enttäuschte deine Mutter. Drei Mal, glaube ich. (Frag sie nicht.) Mein Bedürfnis nach Ruhe war groß, mein Bedürfnis nach Freude größer. Ich lernte nie, wie ein Auto funktioniert, aber den Nacken einer Frau konnte ich so berühren, dass er zum Mittelpunkt des Universums wurde. Einmal sah ich eine Katze ihr totes Junges zwischen den Zähnen tragen. Ich dachte: Das möchte ich niemals tun müssen. Ein anderes Mal schnitt ich einem meiner Söhne die Haare so kurz, dass er sich weigerte, zur Schule zu gehen. Ich glaubte, dass sich die Wirbel bändigen lassen würden! Als ich älter wurde, war ich schnell gerührt. Als ich krank wurde, dachte ich: Gibt es mehr Arten, mich zu demütigen, dann nur zu. Ich bin der Gesterbte, ich bin dein Vater. Ich wurde neunundsiebzig Jahre alt.

PS

    DER GESTERBTE: Du betrachtest mich, als würdest du mich erfinden. Tu das nicht.

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

    Häufig wird vom Vater erwartet, bei Zusammenkünften eine Rede zu halten. Er tut dies mit Vergnügen, bereitet sich jedoch ebenso wenig vor wie damals, als er sich im Anbeginn der Zeit die Farbtuben seiner Frau lieh. Vielleicht ahnt er, worauf er hinauswill, aber die konkreten Formen müssen sich nach und nach ergeben. Die Linie, die er zeichnet, ist nicht tastend, trotzdem weiß er erst, wohin sie führen wird, wenn er den Pinsel auf die Leinwand setzt. Er, der sonst ein bescheidenes Gehör hat, folgt der inneren Melodie ebenso entspannt wie konzentriert, mit einem sanften, natürlichen Rhythmus in den Bewegungen. Schultern, Brust, Hüften, Waden ... Die Kurven schwingen nach innen und außen, bilden Gesten und Zusammenhänge ähnlich den Figuren auf einer Vase. Sie sind selten allein, spiegeln und balancieren einander vielmehr in Formationen, die zugleich fest und geschmeidig sind. Gelegentlich bilden sich Farbwehen, wenn der Pinsel eine Kurve auf zwei Rädern nimmt. Jemandem, der später über die Zusammenhänge nachsinnt, erscheinen alle Abstufungen wie Muskeln – spulenförmig und elegant, niemals angespannt, dennoch erfüllt von einer stillen, gleichsam unverbrauchten Kraft.
    Hinterher kann der Vater nicht rekonstruieren, wie er seine Rede gegliedert hat. Die Freude, mit der er zum Schluss kommt, ist jedoch mit jener Verblüffung verwandt, die sich einstellt, als er erstmals Gelb und Blau mischt und der Mutter verkündet: »Grün! Ich habe das Grün erschaffen!«

Dialog plus Antimücken-Spirale

    Zwei Schatten auf einer Veranda. Knarrende Korbstühle, geleerte Gläser. In der Dunkelheit hört man einzelne Zikaden, auf dem Boden qualmt eine Antimücken-Spirale in der letzten Runde.
    ERSTER SCHATTEN ( nickt zum

Weitere Kostenlose Bücher