Die halbe Sonne
anderen. Sachte verlässt er sich selbst. Er schließt die Augen, spürt die Schwere der Glieder in fernes Tosen übergehen. Als hätte er einen Weg entdeckt, fortzubestehen, ohne einen Körper zu benötigen. Am Ende befindet er sich mehr im Rauschen als auf dem Balkon.
Manchmal hat der Vater Tränen in den Augen, wenn er sich umdreht. Während er nach sich selbst sucht, murmelt er etwas über das Radio des Nachbarn, das er erst in diesem Moment hört.
Der Sohn denkt, dass der Vater denkt, wenn er an Land zurückkehrt:
Das Meer kennt keine Resignation.
Der Teppich
Eines Sommers bekommt der Sohn ein Geschenk. Der Vater ist gerade im Keller gewesen und kehrt mit einem zusammengerollten Teppich zurück. Als er ihn über die Verandamauer gehängt hat, um die Feuchtigkeit auszulüften, zeigt er auf die Initialen, die in den Rand gestickt sind, und erklärt, es seien die seines Vaters. Der Teppich besteht aus drei länglich schmalen Teilen, die in den dreißiger Jahren zusammengenäht wurden. Das Streifenmuster ist in Rot und Weiß gehalten und erinnert an einen Strichcode. Früher waren sowohl das Muster als auch das Format des Teppichs gleich- und regelmäßig, aber infolge zahlreicher Umzüge und einiger Jahre dichten Spielzeugverkehrs in Schweden ist er arg ramponiert.
Der Vater erzählt, seine Mutter habe den Teppich gefilzt, indem sie die Wolle in dem Bach ziehen ließ, der bis heute hinter dem Elternhaus fließt. Als er sechs oder sieben Jahre alt war, kehrte er eines Abends heim, nachdem er mit einem Cousin Ziegen gehütet hatte. Ein kleines Stück oberhalb pinkelte er in den Bach, wohl wissend, dass das Wasser den Urin durch die Wolle führen würde. Seither sind dessen Spuren in den Fasern bewahrt. Der Vater setzt sich. Er nippt am Eistee, bekommt etwas sowohl Heiteres als auch Rätselhaftes. Sein Stuhl scharrt, als er auf eine Ecke des Teppichs zeigt, an der die weiße Wolle verfärbt ist. Weiß der Sohn, warum sie so rosa geworden ist wie eine frische Wunde? Der Sohn nickt. Er kennt die Geschichte, dass der Teppich vor dem Bett der Eltern lag, als die Fruchtblase platzte und sie zu dem wurden, was sie für ihn immer gewesen sind.
Hm. Verstehe. Nun erkundigt sich der Vater, ob der Sohn denn auch wisse, dass dieser Teppich das einzige war, was er mitnahm, als er im Herbst 1947 sein Heimatdorf verließ? Das kann der Sohn nicht von sich behaupten. Zufrieden steht der Vater auf. Ab sofort gehört der Teppich dem Sohn. Immerhin hat er dieselben Initialen wie sein Großvater.
Le village n’est plus dans le village ...
Die Beziehung des Vaters zu seinem Geburtsort ist nicht frei von Komplikationen. Der Geruch von Hühnern und der irgendwie hellere Sonnenschein, die er ein Leben zuvor hatte verlassen müssen, die auffordernden Klänge der Kirchenglocken an den Sonntagen und die Pfiffe der Bauern, wenn sie ihre Tiere trieben, der herbe Kaffeesatz auf der Zunge und die Maiskörner, die immer zwischen den Zähnen hängen blieben – die Eindrücke der Kindheit ruhen wie ein versunkenes Reich in seiner Brust. Wenn er durch das Dorf spaziert, trüben sich allerdings jedes Mal die Wasser. Die neuen Häuser, die Straßen und Plätze verwirren. Er merkt, dass er den Abstand zwischen sich und den Erinnerungen falsch einschätzt. Je mehr er sie in den Griff zu bekommen versucht, desto unhandlicher werden sie. Die Gegenwart erweist sich als der Teil des Erinnerten, der dafür sorgt, dass sie nie intakt bleibt.
Beunruhigt schaut sich der Vater um und gibt sich anschließend große Mühe, sich auf einer Tankstelle zurechtzufinden, die eben noch ein Apfelsinenhain gewesen ist. Er hat nichts gegen Veränderungen, er träumt sich auch nicht zurück zu kalten Wintern in engen Betten oder zu Ereignissen, über die niemand sprechen will. Als er die Tanksäulen und aufgestapelten Autoreifen betrachtet, wird er dennoch das Gefühl nicht los, das Dorf befinde sich nicht mehr im Dorf.
… il est partout où je suis
Anfangs empfindet der Vater Trauer. Eines Tages bleibt er jedoch auf dem Parkplatz des neuen Supermarktes stehen – überrumpelt von Freude darüber, was ein Dorf alles sein kann. Seine anschwellenden, gleichsam kribbelnden Adern deuten an, dass ein Mensch sich nicht verirrt, nur weil Plätze sich nicht mehr dort befinden, wo er sie einst verließ.
Warum verlässt ein Sechzehnjähriger sein Heimatdorf?
Der Sohn, der die Geschichten über die Vergangenheit gehört hat, sie aber nicht immer in Einklang
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