Die halbe Sonne
III
Die politischen Trennlinien verlaufen mitten durch die Familie. Der Vater der Geschwister mag Sympathien für das Königshaus gehegt haben, die auf zwei seiner Kinder abfärben, aber der entscheidende Unterschied besteht nicht darin, ob sie in jungen Jahren für die Monarchie oder für eine Republik gewesen sind, sondern ob sie sich heute dem linken oder rechten Lager zuordnen lassen. Der Sohn stellt sich die Geschwisterschar wie einen Blutkreislauf vor. Da sind die roten Arterien (die Geschwister zwei, drei und fünf) und die blauen Venen (die Geschwister eins, vier und sechs). Der Sauerstoffgehalt mag variieren, aber das Blut ist Teil desselben Systems. Die Adern brauchen einander und halten sich in der Balance, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass die Familie nie von den Konflikten auseinandergerissen wurde, die während des Bürgerkriegs und in der Zeit danach andere Familien zerstörten.
In jungen Jahren entzieht sich der Vater dem großen Kreislauf, indem er mit den Anarchisten sympathisiert, zum Ende hin nimmt er eine unabhängige Haltung ein, die nicht viel von kategorischen Aufteilungen hält. Nur in den Jahren seiner Berufstätigkeit fühlt er sich der roten Seite verpflichtet, obwohl die schwedische Steuerpolitik ihn zeitweise zur Verzweiflung bringt. Lange weiß er, welche Partei die richtige für das Heimatland ist, ganz sicher, doch gegen Ende seines Lebens wird auch er enttäuscht. Während sich die Positionen der Geschwister nie verändern, sucht der Vater nach Nuancen. Vielleicht bildet er den kleinen Kreislauf in der Familie – gleichermaßen das eine wie das andere, selbstversorgend. Der Sohn fragt sich, ob seine Geschwister deshalb mehr auf ihn als aufeinander hören. Oder ob das an anderen Umständen liegt, zum Beispiel an dem Cousin-den-man-niemals-erwähnt.
Der Vater liest ein Buch und gibt anschließend Ratschläge
»Vertraue niemals Biographien. Zu viele Ereignisse im Leben eines Menschen sind unsichtbar. Für andere ebenso unzugänglich wie unsere Träume.« Pause. »Manchmal auch unzugänglich für uns selbst.«
Lockerungsübungen
Der Sohn weiß, dass er mehr über den Vater weiß, als dem Vater unter Umständen bewusst ist. Der Sohn weiß auch, dass der Vater mehr über seinen Sohn weiß, als der Sohn ahnen kann. Bei diesem Gedanken wird ihm warm. Er denkt an trockenen Sand unter den Schulterblättern. An hohle Hände. An zuverlässige Kleiderhaken.
Er denkt auch an den unbenutzten Teil der Papierbogen.
Wenn er über die unsichtbaren Ereignisse nachdenkt, empfindet er jedoch Hilflosigkeit. Er fragt sich: Was geht im Vater vor, als er am Fußende der Treppe liegt und die Hunde an seinem Gesicht schnüffeln? Als er seine zweite Gedichtsammlung auspackt, die gerade aus der Druckerei gekommen ist? Als er beschließt, ihr den Titel Spuren zu geben? Als er in einer Liveübertragung interviewt wird und der Reporter ihn fragt, wie Auslandsgriechen zum Wiederaufbau des Landes beitragen können? Als er von der tirópita der Schwägerin nicht genug bekommen kann, obwohl er weiß, dass dies tagelange Beschwerden nach sich ziehen wird? Als er den Kopfhörer justiert und dem Bericht des Sohns über die Situation der Einwanderer im Schweden der sechziger Jahre lauscht? Als er mit seinem neugeborenen Enkelkind allein ist? Als er zum Friedhof fährt, um die Grabstelle zu inspizieren, die er und seine Frau soeben gekauft haben? Als er am Grab der Eltern und danach an dem des geliebten Cousins vorbeigeht? Als er sich daran erinnert, wie ein mittlerweile verstorbener Bruder sagte: »Ich weiß, dass es noch weh tut, obwohl es vor langer Zeit passiert ist«? Als er stolpert und sich tüchtig weh tut, weil der ungeduldige Sohn möchte, dass er schneller geht? Als er seine Tochter im Teenageralter im Blasorchester der Stadt Flöte spielen sieht, zusammen mit einer Kolonne fünfzigjähriger Angestellter in Uniformen mit Achselraupen, die Hälfte von ihnen sicherlich ehemalige Juntaanhänger? Als er von der Poliklinik zu der Wohnung spaziert, die ihm und der Mutter in einem nordschwedischen Industriestädtchen zur Verfügung gestellt wird? Als er die Rückfahrkarte nach Schweden verfallen lässt? Als er einen Neunzehnjährigen besucht, der ein Jahr in Athen verbringt, und ihm der Geruch von ungewaschenen Haaren und Verwirrung in die Nase steigt? Als er auch noch die Lampe am Eingang abschraubt und die Tür zu dem Haus abschließt, das er gerade verkauft hat? Als er in einem weißen Ford
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