Die halbe Sonne
gewandt: »Es gibt keine Musik wie diese.«
Endlich kann der Vater seine Was-habe-ich-dir-gesagt?-Miene aufsetzen.
Abendschule
An einem Nachmittag ruht die Mutter mit einer Decke auf den Füßen, dem Nachttisch zugewandt. In der einen Hand hält sie ein Buch, die andere Hand ist unter das Kissen geschoben. Neben ihr liegt der Vater auf dem Rücken, mit Blättern auf seinem Bauch und dem Fußboden. Er hält noch eine DIN-A4-Seite, aber die Augen sind geschlossen, der Mund steht offen.
Als die Mutter den Sohn in der Tür hört, fragt sie ihn, ohne sich umzudrehen, was ihr Mann macht. Der hustet, seufzt und mit klebriger Zunge sagt: »Das Innerste im Menschen studieren.«
Das Mutterschiff
Nachdem sie in der Hauptstadt eine Wohnung gefunden haben, kann der Vater sich auf das konzentrieren, wovon er während der Jahre im Ausland geträumt hat: ein Zuhause zu erschaffen, das die Familie niemals wird verlassen müssen. Zusammen mit seiner Frau inspiziert er die Umgebung seines Geburtsdorfs. Es dauert einige Jahre, aber schließlich finden sie den perfekten Ort und kaufen wenige Kilometer jenseits der Gemeindegrenze einen Olivenhain. Dort bauen sie ein Sommerhaus, das mit der Zeit winterfest gemacht wird. Die Mutter zeichnet die ersten Pläne, ein Architekt überarbeitet sie. Die Arbeit schreitet schubweise voran. In einem Jahr wird ein Brunnen gebohrt, im nächsten ein Keller ausgeschachtet. Wände werden gegossen und Dächer gedeckt, Kanalisation und Elektrizität werden installiert. Von der oberen Etage aus kann man mit etwas gutem Willen und einem Fernglas oben im Dorf das gelbe Elternhaus mit seinem Balkon erkennen. Als schließlich der Hausrat eintrifft – darunter achtzehn Esszimmerstühle, eine eigens entworfene Eingangslampe sowie Küchenstühle, die auf einmal seltsam ausländisch wirken –, besteht das Haus aus ebenso vielen Quadratmetern Veranda wie Wohnfläche. Einsam steht es inmitten von Feldern und Hainen, weiß und fremd wie ein Raumschiff aus der Zukunft.
In einer Ecke des Grundstücks wird ein Zementfundament gegossen. Ein Bauer wird angeheuert, der mit seinem Traktor hin und her fährt. Eine Woche später ist die Fläche mit Tausenden faustgroßen Steinen gefüllt, die aus einem ausgetrockneten Flussbett in der Nachbarschaft geholt wurden. Hier soll der Tennisplatz entstehen, von dem eines der Kinder träumt. Das restliche Grundstück wird mit Obstbäumen bepflanzt. Rasenflächen und Gemüsebeete werden angelegt, Zäune werden aufgestellt und Hibiskussträucher säumen den Weg. Fünfzehn Jahre später hat man Teile der Veranda überdacht und sogar den Keller winterfest gemacht. Die uralte Eiche auf der Rückseite des Hauses wird mit einem weiß gekalkten Sockel geschmückt, flankiert von einer halbmondförmigen Sitzbank, beides aus Zement. Das Arrangement lässt einen an ein Amphitheater denken. Nicht einmal elektrische Lichterketten in den Baumkronen fehlen. Oder eine Hundehütte an der Einfahrt – groß wie ein Holzschuppen, mit Dachziegeln, eigenem Wasser und gefliestem Boden.
Nur der unfertige Tennisplatz verfällt. Meterhohes Unkraut wächst zwischen den Steinen. Der Zement bekommt Risse, Echsen und Schlangen ziehen in die Hohlräume. Wer es nicht besser weiß, könnte meinen, es handelte sich um eine Landebahn für eine minderbemittelte Luftwaffe.
Privatgrundstück. Betreten verboten!
DER GESTERBTE : Muss die ganze Welt von meinen Jahren als Bauherr erfahren? Alles geschah für den Privatgebrauch. Warum stellst du in deinem Buch keine Schilder auf?
Der zweite Essay über Hände
Wenn der Vater schreibt, zieht er Druckbuchstaben vor. Die Schriftzeichen sehen aus wie jene, die der Sohn selbst zustande bringen könnte, nur stabiler und hübscher. Eines Tages findet der Sohn jedoch im Keller einen Schuhkarton mit Fotos aus der Zeit vor Häusern und Kindern. Auf der Rückseite einer Aufnahme sind der Name einer Hauptstadt, ein Monat und eine Jahreszahl notiert. Das Bild muss in der ersten Woche im neuen Land aufgenommen worden sein, bevor der Erneut-Blut-Hustende in ein Sanatorium südlich der Stadt aufgenommen wurde. Der ungewöhnlichen Handschrift nach zu urteilen – S , t , k , l , m ... − hat der Vater als Kind keine lateinischen Buchstaben gelernt. Der Sohn fragt sich, ob es das große S mit seiner Andeutung eines abschließenden Sigmas ist, was ihn verrät. Oder ob es eher das kleine k , das h und das l mit ihren unnatürlich hohen Schnörkeln sind – als wären sie ein
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