Die halbe Sonne
Brüder und ebenso viele Schwestern. Nach der Schulzeit bleibt nur der älteste Bruder im Dorf, die übrigen Geschwister gehen nach Athen. Als die Eltern sterben, übernimmt er das Haus und das Lebensmittelgeschäft am Marktplatz im oberen Teil des Dorfs. Der Bruder ist ein überzeugter Rechter, stets um das Ansehen der Familie bemüht und mit einem phänomenalen Gedächtnis ausgestattet. Viele Jahre später, nach dem Tod seiner Frau, verkauft er sein Geschäft der Gemeinde, die das Haus abreißen und den Platz erweitern lässt. Danach hat er tagein, tagaus nicht viel zu tun. Sein Augenlicht wird schwächer, gewöhnlich findet man ihn in einem der Cafés. Dort mischt er sich in Gespräche ein, trinkt Ouzo und raucht. Am Ende ist er praktisch blind und kommt nicht mehr alleine zurecht. Die beiden Töchter in Athen stellen eine Bulgarin ein. Die Haushaltshilfe zieht mit ihrer Familie ins Erdgeschoss und tut für den Herrn des Hauses, was sie kann, wenn sie nicht gerade bei ihren Kindern Windeln wechselt.
Wenn der Vater den Bruder zu sich nach Hause einlädt, erwartet letzterer, dass seine Schwägerin den Kaffee serviert und die Geschwister anschließend in Ruhe lässt. Dem Vater fällt es bei diesen Besuchen schwer, ernsthaft zu bleiben. Nachdem er sich geduldig die letzten Neuigkeiten angehört hat, beginnt er zu »stechen«. Er stellt Fragen, die in Wahrheit versteckte Fallen sind, er verleitet den Bruder zu hanebüchenen Urteilen, er lässt ihn nicht einmal in Frieden, als er ihn so weit getrieben hat zu behaupten, dass die Militärs jedenfalls gut für die Wirtschaft waren.
Der Sohn verfolgt das Spektakel schweigend – und wie verhext. Plötzlich scheint sich jegliches Verantwortungsbewusstsein im Vater verflüchtigt zu haben. Verschwörerisch sucht er die Blicke der anderen. Er macht ironische Bemerkungen über den Bruder, er schneidet Grimassen, er benimmt sich wie ein Kind. Dann wird dem Sohn schlagartig klar: Nein, er benimmt sich nicht wie ein Kind, er benimmt sich wie ein Sohn. So muss er selbst in rebellischeren Momenten gewirkt haben. Sich seiner selbst urplötzlich bewusst werdend, rührt er in der Kaffeetasse. Auf einmal wagt er es unter keinen Umständen, die Männer anzusehen.
Während der Unterhaltung bleibt der Bruder seelenruhig. Bevor der Vater ihn nach Hause fährt, zündet er sich eine letzte Zigarette an und erklärt: »Du bist wie ein Frauenzimmer. Fragen über Fragen.« Seine Hand wedelt den Rauch fort. »Schlimmer als ein Mückenschwarm.«
Braune Oliven und rauhe Steine
In der Verwandtschaft des Vaters lassen sich die Familienmitglieder, abhängig von Art und Aussehen, in zwei Gruppen unterteilen. Der Sohn sieht sie in Gedanken als braune Oliven und rauhe Steine vor sich. Die Geschwister eins, drei und fünf gehören zur ersten Gruppe, die Geschwister zwei und sechs zur zweiten. Das vierte Kind – ein Bruder – starb bereits in den siebziger Jahren und würde, wenn es denn zählte, zu den Oliven gehören.
Diese haben sanfte Augen, weiche, flaumbesetzte Ohren und vorspringende Wangenknochen, eine hohe Stirn und einen geraden Rücken. Ihr Bauch wölbt sich vor, aber mit einem tieferen Schwerpunkt, der ihn im Profil einem riesigen Regentropfen ähneln lässt. Wenn sie sprechen, lehnen sie den Kopf zurück, wenn sie sich bewegen, geschieht es mit mineralischer Ruhe. Irgendwo im Gesicht sitzt ein Muttermal. Die Lippen sind weder schmal noch voll. Obwohl ihr Blick konzentriert ist, haben alle Probleme mit den Augen. Der Teint hat einen Ton von braunem Staub. Darüber hinaus gibt es angestautes Sonnenlicht. Die Oliven besitzen einen Kern aus Unverbrüchlichkeit, umgeben von Mitgefühl.
Die Steine sind dagegen ganz Wind, Wasser, Quecksilber. Der Kopf ist breit, die Ohren sind klein, aber fleischig, die Lippen voll. Die Stirn ist gleichsam viereckig, das Haar scheint seit jeher grau meliert gewesen zu sein. Obwohl ihre Augen nicht blau sind, denkt man es. Sie lachen gern, sind oft aufbrausend, kneifen andere mit Vergnügen in die Wange. Wenn sie sprechen, reden sie auch immer mit den Händen. »Das sind alte Freunde.« (Zwei Zeigefinger aneinandergerieben.) »Kommt nicht in Frage!« (Beide Hände abwärts gestreckt, zehn gespreizte Finger.) »Was soll ich sagen?« (Ein Arm fällt mit offener Handfläche rückwärts über die Schulter, wie ein sterbender Schwan.) In Wahrheit sind die rauhen Steine weich und federnd wie Kissen.
Und der Vater? Der Sohn mag sich nicht entscheiden.
Politik,
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