Die halbe Sonne
ist und nicht einschlafen kann, beugt sich manchmal, riesig und warm, ein Schatten über das Bett. Behutsam lehnt der Vater sein Gesicht an Hals und Schulter, als gäbe es den Raum dort nur für ihn. Seine Atemzüge sind ruhig, erfüllt von den Geheimnissen eines Elternteils. Irgendwo darin liegt der Geruch, den der Sohn von Pullovern und Halstüchern kennt. Es ist eine Mischung aus trockener Erde, Oregano und der Definition von Wärme – als könnte man in ihm wohnen. Manchmal nimmt er auch, glatt und reptilienhaft, einen flüchtigen Duft von Alkohol vermischt mit herbem Tabak wahr. An seinem Ohr murmelnd verspricht der Vater, ihn nicht allein zu lassen, dann improvisiert er ein Lied. Wunschlos kann der Sohn, von dem duftenden Schatten eskortiert, in den Traum gehen.
Als er älter wird, steigt ihm der Geruch nur dann in die Nase, wenn sie sich begrüßen oder Abschied nehmen. Wie üblich kratzt der Bart des Vaters an der Wange, wenn sie sich küssen, aber sein Geruch öffnet im Sohn immer noch Raum auf Raum. Er stellt sich vor, dass er einen Tunnel durch die Zeit gräbt und Plätze, an denen die Familie gewohnt hat, mit Orten verbindet, die Kindern und Ehe vorausgingen. Er kann nicht ausschließen, dass er sogar bis zu dem Schlafzimmer in einem gelben Haus führt, in dem sich an einem Märztag Anfang der dreißiger Jahre ein neugeborener Junge heiser schrie.
Mehr als Puls und Atem ist der Geruch die große Konstante des Vaters. Als er die Lippen auf die Wangen des Sohnes presst, berühren sie wie immer kurz die Mundwinkel. Die Feuchtigkeit trocknet langsam. Sie ist das Siegel des Geruchs.
Avantgarde
Nach dem Abitur verbringt der Sohn neun Monate in Griechenland. Die Medizinpläne liegen auf Eis, bis er auf eigene Faust sein Vaterland erkundet hat. Er reist an mit einem Koffer voller Bücher und einem von Nerven und Erwartung zittrigen Körper. Offiziell bildet er eine Vorhut mit dem Auftrag, das zukünftige Territorium der Familie zu erkunden. Insgeheim plant er jedoch, Vorstöße auf einem Gebiet zu machen, das, so hofft er, eines Tages sein eigenes werden wird. Er mietet eine garzoniéra – ein Zimmer mit Kochnische – auf dem Dach eines Gebäudes und ernennt sie augenblicklich zu seinem Hauptquartier. Bei Regen wird der Marmorboden der Terrasse glitschig, die Aussicht zwischen den Wäscheleinen ist grandios. Wenn er sich hinauslehnt, kann er einen Teil der Akropolis sehen. Rasch lernt er, zu den ruckenden Lauten aus dem Aufzugsschacht einzuschlafen. Er schreibt laufend Briefe und hat gerade angefangen zu rauchen. Eine Tür, die auf zwei Holzböcken liegt, ist sein Altar.
Dennoch verliert er in den folgenden Monaten Kraft. Er meidet den Sprachunterricht, trifft seine Verwandten immer seltener, verbringt die Tage auf seiner Matratze. Passend zum Dezemberregen erleidet er auf dem Dach Schiffbruch. Er glaubt an nichts mehr. Einen Tag bevor der Vater zu Besuch kommt, klebt er einen Abschiedsbrief an die Tür und löst anschließend eine Fahrkarte zu einer der Inseln vor der Hauptstadt.
Erst eine Woche später kehrt er zurück.
Der Vater ist besorgter als je zuvor, erkennt aber, dass er Ordnung in die trotzigen Erklärungen bringen muss. Er sieht sich genötigt zuzuhören, ohne zu unterbrechen. Er ist gezwungen, sich Gedanken über schmutzige Kleider und ungewaschene Haare zu machen, ohne sie zu kommentieren. Er muss überhaupt sehr ruhig bleiben.
Am Ende hat er trotzdem genug. Er legt seinen Arm um den Neunzehnjährigen, drückt ihn an sich, sagt eine Ewigkeit lang nichts. Dann spricht er das einzige Wort aus, das eine Vorhut hören muss.
»Mut.«
Stawrogin in der Kur
Der Sohn feiert Silvester in einem winterbedingt geschlossenen Kurhotel in der Nähe des Heimatdorfs seiner Familie. Einer seiner Onkel, Nummer sechs in der Geschwisterschar und der dem Vater am nächsten stehende, leitet das örtliche Fremdenverkehrsbüro und quartiert zugereiste Familienmitglieder in den »besseren Zimmern« ein – will sagen, solchen mit Kamin. Das Hotel ist von betagter Pracht durchweht. In den hohen, leeren Korridoren hallen die Schritte, abends glitzert die Glut des offenen Kamins im staubigen Kronleuchter des Speisesaals. Auf dem Tisch, den der Sohn in seinem Zimmer in der zweiten Etage ans Fenster geschoben hat, so dass er den Binnensee mit den Schwefelbädern am gegenüberliegenden Ufer sehen kann, steht eine militärgrüne Schreibmaschine. Unangetastet. Er zieht es vor, unter den Decken auf seinem Bett zu
Weitere Kostenlose Bücher