Die halbe Sonne
müde, aber ernst mitteilt, er benötige weitere Stunden, um das Gespräch mit seinem Kollege abzuschließen. Oder wenn er mit den Händen anzeigt, wie weit es noch ist, bis sie von der jugoslawischen Autobahn abfahren können. Oder wenn er mit einer Stimme so jung und grün wie Olivenöl erklärt, er liebe seine Frau, nichts werde daran irgendetwas ändern, auch wenn die Glieder eines Tages knarren sollten wie ein Baum.
Und es kann auch keine sein, wenn der Vater sagt, dass man seine Nachkommen ruhig als Ziegen, Wasser oder Himmelskörper betrachten könne. Hauptsache, es sei Verlass auf sie.
Interview, Teil eins
Wie war die Kindheit des Vaters? Sie essen am Omoniaplatz bougátsa , als die Frage gestellt wird. Der Vater hat gerade einem Roma-Jungen ein paar Münzen in die Hand gedrückt. Nun wischt er sich den Puderzucker vom Mund und wendet das Gesicht der Straße zu. Der Sohn rechnet damit, Erinnerungen zu hören, die er bereits kennt, wird jedoch vom tastenden Tonfall des Vaters überrascht. »Schwierig.« Pause. »Phantastisch.« Pause. »Was willst du von mir hören?« Schweigen.
Durchs Fenster sehen sie den Jungen an der Bushaltestelle betteln. Ihn im Auge behaltend erzählt der Vater, dass es im Grunde keine Kindheit gab. Nur Geschwister, Hühner und eine Dorfschule. Nur den Vater, der, umgeben von Konserven und Mehlsäcken, hinter der Ladentheke stand. Nur die surrenden Fliegen. Nur die Eiskiste aus Holz. Nur den Zopf und die warmen Handflächen der Mutter. Nur den ewigen Husten und den kühlen Erdfußboden unter den Fußsohlen. Nur die Priester, die nach Schweiß und Weihrauch rochen. Nur Fußball auf qualmenden Schotterplätzen und das Geräusch von Eseln um fünf Uhr in der Frühe. Nur Kaugummis mit Zimtgeschmack und teerige Zigaretten. Nur die ausgedienten Schulbücher der älteren Geschwister und den Gürtel darum. Nur denselben Gürtel, den der Vater zu anderen Zwecken benutzte. Nur Mücken, nur Sonne. Nur den gemeinsamen Sprung von einer Klippe und das Jod, das in den Schürfwunden brannte und die umliegende Haut rot färbte. Nur kalte Nächte und den Bruder, der sich im gemeinsamen Bett umdrehte. Nur die untätigen Tage voller Gedanken und Wind.
»Es gab keine Kindheit«, sagt der Vater und lächelt so vorbehaltlos, dass es den Sohn schmerzt. »Es gab einen Jungen und brennende Erwartung.«
Interview, Teil zwei
Und wie war die Jugend?
Der Vater zieht die Schultern hoch, geht ruhig und gefasst durch den Sprühregen. Die Jugend? Wie die Kindheit, wenngleich ohne Kinder. Nur Sonne und Zikaden. Nur Novemberkühle und geerbte Schuhe. Nur die ersten Straßen mit Makadambelag. Nur der Krieg und mehlige Bohnen. Nur der Krieg und wässrige Linsen. Nur lehmige Geländewagen und Schüsse oben in den Bergen. Nur die Geschwister, die größer wurden, umzogen und arbeiten gingen. Nur die letzten Jahre in der Schule an der staubigen Straße zum Meer hinab. Nur die aufmunternden Worte des Lehrers und der Ellbogen des Cousins in der Seite. Nur die Schulkameradin mit den langen Haaren, die eines Tages das Hotel der Eltern erben würde, sich vierzehnjährig aber noch mit einem so sonnigen und unverstellten Lächeln umdrehte, dass er wegsehen musste. Nur die Spaziergänge zu den Nachbardörfern und zurück. Nur das Jackett, das man am liebsten auf den Schultern tragen sollte, und die erste Zigarette in der Hand. Nur die ewigen Diskussionen über Mädchen. Nur die ewigen Diskussionen über Dichtung. Nur die ewigen Diskussionen über Politik. Nur der Dorfarzt, der dem Kranken auf die Brust klopfte und erklärte, er könne einen Nachfolger gebrauchen, der so interessierte Fragen stelle. Nur die Ziegen, die gehütet werden mussten, und die Gespräche mit dem besten Freund unter den Apfelsinenbäumen. Nur die dröhnende Hitze. Nur die Rennerei zu den Behörden und die Stempel, die für eine Reiseerlaubnis erforderlich waren. Nur die Hand eines Polizeichefs, die auf der Schulter des jugendlichen Sohns des guten Freundes ruhte. Nur die Handfläche einer Mutter und die lange, schwarze Reise nach Athen.
»Es gab auch keine Jugend. Nur denselben Jungen, der sich wie ein Haus fühlte, das umgebaut wird. Nicht brennend, eher glühend.«
Der letzte Essay über Hände
Viele Jahre später sagt der Vater »So«, als er zeigen soll, wie sich die Handfläche einer Mutter anfühlt, wenn sie Abschied nimmt. Er drückt seine Hand an die Wange des Fragenden. »Weiter als der Himmel.«
Die große Konstante
Als der Sohn klein
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