Die halbe Sonne
durchaus möglich, Europa mit dem Auto zu durchqueren. Die fünf Junitage mit Koffern auf dem Dachgepäckträger sind im Vergleich zu den Monaten im Heimatdorf nicht der Rede wert. Obwohl er seine Arbeit routiniert verrichtet und es bei dem Gedanken an neue Stellen in den Adern kribbelt, findet er sich mit der Situation ab. Gleiches gilt für die Eigenheimsiedlung, in der man mit Nachbarn zusammenwohnt, die Kinder im gleichen Alter haben. Besorgniserregender erscheint ihm die Erkenntnis, dass seine Kinder ihre Spielkameraden umso unwilliger aufgeben werden, je älter sie werden. Der Vater, der eine schwedische Karriere macht, erkennt, dass seine Familie auf dem besten Weg ist, sesshaft zu werden.
Größter Grund zur Sorge ist jedoch etwas anderes. Der Sohn kämpft sich gerade durch die Mittelstufe. Nachdem er die Klasse gewechselt hat, hören die Schikanen auf, aber die Gefahr ist deshalb längst nicht gebannt. Um seine Stellung auf dem Schulhof zu stärken, bewegt er sich in den falschen Kreisen. Kommt spät nach Hause, sagt nie, was er treibt, reagiert trotzig auf alle Versuche, Vertrauen aufzubauen. In der Garage steht rätselhafterweise ein Moped, das der Vater im Verdacht hat, derartig frisiert zu sein, dass es einen Ford einholen könnte. Als außerdem zwei Mädchen in der Klasse schwanger werden und ein Schulkamerad in einer Einrichtung für schwer erziehbare Jugendliche landet, erkennt er, dass es Zeit wird, die Koffer zu packen. Eine Anzeige in der Ärztezeitung genügt, um ihn zuschlagen zu lassen.
Im übrigen muss der Sohn nicht jedes Wochenende werkeln
In den siebziger Jahren ist Schweden ein fernes Land. Während der jugendliche Sohn in der Garage Kolben feilt, wächst das Gefühl des Vaters, in der Verbannung zu leben. Zwar ist sein Dasein mit Spülmaschine und Seegrastapeten ausgestattet, aber umgeben von Nadelwäldern leidet er an Atemnot. Um Dampf abzulassen, scheucht er die Familie ins Auto. Mindestens einmal im Monat verbringt man das Wochenende auf Landstraßen. Ein paar Stunden Hafturlaub im Sommerhaus an der südschwedischen Ostküste, ist das etwa zu viel verlangt?
Noch ein Schild
DER GESTERBTE : Diese Jahre hätten mich fast meine Familie gekostet. Können wir hier nicht auch ein Schild aufstellen?
Ausgeschlossen
In seltenen Fällen kommt der Vater auf knisternden Leitungen durch. Auf diese Weise erfährt er, wie es in seinem Heimatland zugeht. Er hört von Freunden, die fortgegangen sind, und Inseln, die überbevölkert sind, obwohl gar keine Touristensaison ist, er erfährt, dass Nachbarn ihre Arbeit verloren haben und in der Verwandtschaft Krankheiten wüten, er lauscht den Berichten über Geldmangel und Zeitungen, in denen keine vernünftigen Nachrichten stehen – und wird vorsichtig. Der Vater spricht nicht mehr über neue Schritte auf der Karriereleiter, er erzählt nicht vom Umbau des Sommerhauses oder dem neuen, auf Kredit gekauften Auto, er wählt seine Worte mit Bedacht. Die Berichte sind so niederschmetternd, dass sie ihn mehr quälen, als die Stimmen der Geschwister ihn erfreuen. Wenn er auflegt, besteht sein Herz unweigerlich aus Kies. Er hebt nochmals den Hörer ab, hört jedoch nur, wie das monotone Geräusch in kurzes Tuten übergeht. Ausgeschlossen. Er ist ausgeschlossen.
Brief an einen l. Bruder, mit dem man sich das Bett geteilt hat
»L. Bruder, in deinen blauen Aerogrammen erkenne ich das Meer. Wenn ich ein neues aufschlitze, bin ich jedes Mal verblüfft: Es ist nichts darin. Trotzdem lassen mich die Worte an der Oberfläche in die Vergangenheit sinken.
In der Nacht nach einem Brief liege ich meistens wach. Oder erwache schlagartig um drei Uhr. Etwas, was du schreibst, schlägt Löcher ins Gedächtnis, und ich kann an der ersten Zeit in Schweden und unseren gemeinsamen Jahren in Wien vorbei bis zu der Zeit daheim zurückschauen. Ich sehe Mutters Hände, wenn sie Eier verquirlt. Ich höre die Geschwister aus der Schule zurückkehren und die gackernden Hühner auf dem Hof auseinanderstieben. Ich spüre Vaters Gegenwart am Tisch und weiß, ohne ihn ansehen zu müssen, dass er Zeitung liest. Wenn ich meine Frau neben mir atmen höre, denke ich an dich und dass wir in dem Bett neben der Küche tatsächlich gemeinsam Platz fanden. Dann erinnere ich mich, wie wir um vier Uhr morgens aufstanden, um bei den Netzen zu helfen. Wie wir an den Fensterladen unseres Cousins klopften, damit er auch mitkommen konnte. Wie die Hände rochen, wenn man das nasse Seil hielt, das
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