Die halbe Sonne
durch die Finger glitt, bis der Anker den Grund erreichte. Wie die Sonne auf dem Messer funkelte, während wir die großen Fische ausnahmen. Wie sich die Straße unter den Fußsohlen anfühlte, wenn wir zur Schule rannten. Wie wir um die Wette liefen, wie wir sangen. Wie die Sardinen schmeckten, wenn Mutter sie am selben Abend briet, paniert in Ei und etwas Mehl.
Meine Frau weiß von alldem so wenig. Aber wenn ich sie neben mir höre, denke ich an deine Atemzüge. Dann seid ihr nur schwer auseinanderzuhalten. Dies und vieles andere enthalten deine Aerogramme. Dass eine Oberfläche so vielem Platz bieten kann, eine Außenseite ihrem eigenen Inhalt. Ich erinnere mich auch, dass du mich im Schlaf getreten hast. Ich trete zurück. Und umarme dich.«
Freie Bahn
Der Bescheid kommt Ende Juli 1974. Die Obristen haben für die Zeit bis zu den ersten freien Wahlen im November des Jahres eine Übergangsregierung eingesetzt. Drei Wochen später darf der Vater endlich sein Heimatland besuchen. In der Brusttasche stecken ein schwedischer Pass sowie verschiedene Bescheinigungen, die seine Bedeutung für das schwedische Gesundheitssystem betonen, falls die Behörden auf die Idee kommen sollten zu verhindern, dass ein alter Flüchtling sein Rückflugticket benutzt. Er schafft es gerade noch, die Lippen auf die Landebahn zu pressen, als die Militärpolizei ihn auch schon zu sich winkt. Der Vater ist nicht der erste Landsmann, der von der Heimkehr überwältigt wird. Der Asphaltkuss kostet ihn eine Nacht und viele Dollar Visumsgebühr.
Am nächsten Morgen donnert das Herz wie eine Pferdeherde. Durch die Glasscheibe sieht er seinen müden Bruder in der Ankunftshalle warten. Dreiundzwanzig Jahre.
Verschworene Gemeinschaft
Im folgenden Sommer macht sich die Familie bereit, durch ein Deutschland zu reisen, das aus Autobahnen besteht. Nachdem sie Verwandte in Österreich besucht haben, geht die Fahrt durch Jugoslawien weiter. Geld ist Mangelware, die ältesten Söhne werden gebeten, im Auto zu schlafen. »Jemand muss das Gepäck bewachen.« Der Vater gibt ihnen Taschenlampen und die Anweisung, auf keinen Fall die Scheibe herunterzukurbeln, falls jemand klopfen sollte. Anschließend trägt er die jüngsten Kinder zur Mutter, die auf dem Fußboden des Motelzimmers eine zusätzliche Schlafstatt einrichtet. Die ganze Nacht hindurch strömender Regen.
In Athen warten drei Schwestern und ein Bruder. Als der Wagen in die kleine Straße in Piräus eingebogen ist und vor der Gartenpforte des Bruders parkt, stehen die Geschwister auf der Veranda von ihren Stühlen auf. Für ein paar Stunden verliert der Vater seine Autorität. Während seine Schwestern sich darum zanken, wer neben ihm sitzen darf, wird er zwanzig Jahre jünger. Ununterbrochen küssen sie ihn auf und kneifen ihn in die Wange, keine von ihnen erträgt es, ihn ohne loukoúmi auf dem Teller zu sehen. Die älteste Schwester – einer der rauhen Steine der Familie – ist Lehrerin und besteht aus Lachen und Gesten. Ihre Brust wird von Puderzucker befleckt, der sich nicht mehr abwischen lässt. Die mittlere Schwester – eine braune Olive – ist das Gehirn der Familie. Sie hat dem Vater damals den Rat gegeben, nach dem Vorfall mit dem Hemd ins Ausland zu gehen. Während der Studienjahre in Wien, wo sich auch der Bruder einige Zeit aufhielt, ehe er in die Heimat zurückkehrte, schickte sie jeden Monat Dollarscheine in sorgsam versiegelten Briefumschlägen. Jetzt möchte sie alles über die Pläne des Vaters für den Sommer erfahren. Auch die jüngste Schwester ist eine braune Olive und trägt die Haare hochgesteckt wie Sophia Loren. Sie ist Sportlehrerin, kinderlos und mit einem Bahnhofsvorsteher verheiratet, der niemals erfahren wird, dass seine Gattin sieben Jahre älter ist, als er glaubt.
Von allen Geschwistern steht dieser Bruder dem Vater am nächsten. In der Kindheit teilten sie sich ein Bett, während der Jahre in Wien eine Wohnung, und obwohl ihre politischen Sympathien immer noch weit auseinanderliegen, herrscht eine Selbstverständlichkeit in ihrem Umgang miteinander, die dem Sohn gefällt. So verhalten sich Menschen, die sich aufeinander verlassen können. Während die Geschwister über ihren anderen Bruder, den Textilfabrikanten, sprechen, der zwei Jahre zuvor an einem Herzinfarkt gestorben ist und dessen Witwe inzwischen jeden Kontakt zur Familie abgebrochen hat, wandern die Augen des Sohns zwischen Steinen und Oliven hin und her. Trotz ihrer unterschiedlichen Art
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