Die halbe Sonne
kann er sich keine größere Zusammengehörigkeit vorstellen.
Kleiner Bruder Erzengel
Drei Tage später dauert es ebenso viele Stunden, den knappen Kilometer durch den Geburtsort zu rollen, von der Landstraße bis zum Elternhaus hinauf, das der Vater im Alter von sechzehn Jahren verließ. Die Nummernschilder verraten den Reisenden. Er kurbelt das Seitenfenster herunter, grüßt, bremst, lacht. Mit jedem Meter kommen neue Menschen hinzu. Männer und Frauen machen auf Eseln oder Mopeds halt, Ladenbesitzer treten aus ihren Geschäften. Auch die Gäste in den Cafés erheben sich. Jeder erklärt, wer er ist, und will den verlorenen Sohn des Dorfs danach nicht ziehen lassen.
Als der Wagen den oberen Teil des Dorfs erreicht, steht der älteste Bruder des Vaters mitten auf der Straße. Das Gerücht kommt schneller voran als der Ford Falcon. Der Bruder trägt eine lange blaue Schürze, seine ausgestreckten Hände sind mehlbestäubt. Nacheinander küsst er seine Schwägerin, vier Kinder und schließlich seinen kleinen Bruder. Als er ihn loslässt, hinterlässt er weiße Flügel auf seinen Schultern.
Polareis
Der Vater erklärt, dass seine Kinder Durst haben. Der Bruder schlägt mit der Hand auf eine Gefriertruhe. Sie sei vielleicht nicht so toll wie die Kühlschränke, an die sie im Norden gewöhnt sind, aber hier gebe es alles, was das Herz begehrt. Ein echter Nordpol. Er zieht vier Flaschen aus dem klirrenden Inneren. Als der Sohn ausgetrunken hat, fragt er, ob er hineinsehen dürfe. Der Onkel versteht ihn falsch und nickt, solange er seine Schuhe ausziehe, bitte. Kurz darauf befindet er sich in der Truhe, Hände und Knie gegen qualmende Eisblöcke gepresst. Neben ihm liegen in Zeitungspapier eingeschlagene Fleischstücke, wenn er sich bewegt, schlittern Flaschen umher. Plötzlich bekommt er Angst, dass der Deckel zufallen könnte, und mit einer Lunge, die ihm auf einmal wie neu vorkommt, versucht er hinauszukrabbeln. Der Vater dirigiert ihn jedoch zurück und greift nach der Sofortbildkamera. Auf dem Foto wird der Entdeckungsreisende umgeben von Polareis hilflos in die Linse starren.
Eine Vierzahl von Entdeckungen
In diesem Sommer wird verständlicher, wie man es anstellt, aufzuwachsen und Vater zu werden. Zwar fällt es dem Sohn schwer, alles zu verstehen, was gesagt wird, aber das Dasein interessiert ihn in einer Weise, die nur bedeuten kann, dass es unerschöpflich ist. Er ist neugierig, er ist verzaubert, er sieht Zusammenhänge, die eine gewisse Person zugleich fremder und vertrauter erscheinen lassen. Dabei werden vier Entdeckungen besonders bedeutsam.
1. Im Heimatdorf des Vaters ist es nicht er selbst, der für die Geschichtsschreibung steht. Der Sohn kann unmöglich bei allem mitkommen, was in den Tavernen erzählt wird, begreift allerdings mühelos, dass viele Dinge auch für andere Neuigkeiten sind. Plötzlich sieht er den Schuljungen im Vater. Nickend, nickend. Und lachend, aber mit gerunzelten Augenbrauen.
2. Als der Kapitän des örtlichen Fußballteams einen Mannschaftskameraden beschimpft, der den entscheidenden Pass zu ungenau geschlagen hat, versteht der Sohn, dass die Wutanfälle des Vaters nichts Besonderes sind. Die Gesten, die Flüche, die Lautstärke: Er erkennt praktisch alles wieder. Nur die Unfähigkeit, länger als eine halbe Minute zornig zu bleiben, ist offenbar typisch für den Vater.
3. Von morgens bis abends treffen kranke Menschen ein. Der verlorene Sohn des Dorfs will kein Geld annehmen, aber die Patienten haben ihren Stolz. Keiner von ihnen käme auch nur im Traum auf die Idee, sich mit leeren Händen einzufinden, weshalb sich das geliehene Haus rasch mit Ölkanistern, glänzenden Blöcken aus Fetakäse, Obst und Gemüse, Gebäck, Körben und Webarbeiten füllt. Im Garten tummeln sich Hühner, und die Mutter fragt sich, ob sie das Federvieh nun verschenken oder jemanden bitten soll, es zu schlachten; auf der Veranda stehen frisch geflochtene Stühle. Nicht einmal eine Ziege fehlt. Für ein paar Tage schlürft sie Wasser aus einem Eimer, dann wird sie von einem Verwandten übernommen. Als der Vater Scherze über die Patienten macht, versteht der Sohn, dass dies keine Reaktion ist, die nur bei anderen Stämmen auftritt. Oder eine, in der kein Mitgefühl läge.
Diese Entdeckungen verändern seine Sichtweise. Plötzlich erscheint ihm der Vater klar und durchsichtig, wie ein Labyrinth aus Luft.
Die größte Entdeckung macht er dennoch auf der Heimreise.
4. Als die Abreise näher
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