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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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gerichtet, an den Rücken gewandt, der soeben die Bibliothek verlässt: »Ich sagte berichtigen. Nicht umschreiben.«
    XX. Ein ausländischer Vater spricht niemals schlecht über andere Menschen. Er macht sich höchstens über sie lustig.
    XIX. Die Hände eines ausländischen Vaters. Es klingt merkwürdig, aber: Sie ereignen sich.

Nachsicht

    DER GESTERBTE : Nimm es mir nicht übel, mein Sohn. Es ist nur so, dass deine Worte mich ermüden.

Besuch eines zukünftigen Paten

    An einem Wochenendmorgen klingelt es an der Tür des Hangars. Der Vater, der gerade sein Frühstück beendet hat, blickt verstohlen zu seiner Frau. Seine Besorgnis ist spürbar und spontan. Als die Kinder verneinen, dass sie Freunde erwarten, geht sie nachsehen. Unmittelbar darauf kehrt sie mit einem Mann in einem Collegesweater zurück. Er stellt sich als ein Grieche heraus, der seit langen Jahren in Kalifornien klassische Sprachen lehrt. In diesem Jahr hat er die Funktion eines Koordinators für Austauschstudenten inne. Der Mann wohnt mit seiner Familie außerhalb der Stadt und ist gerade die zwölf Kilometer gegangen, um einen Sozialmediziner zu treffen, von dem ihm andere Landsleute erzählt haben. Den restlichen Tag verbringen die beiden in Gespräche vertieft. Als der Vater zurückkehrt, nachdem er den Gast heimgefahren hat, benimmt er sich wie ein Junge. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass er einen Freund fürs Leben gefunden hat.

Verloren in der Vergangenheit

    Eine Woche später kommt der Mann mit seiner amerikanischen Frau und zwei Kindern zu Besuch. Beim Abendessen erzählt er von seiner Kindheit und Jugend im Nordwesten Griechenlands und davon, wie ihm ein Pfarrer nach dem Bürgerkrieg zur Flucht verhalf. Er war siebzehn und der älteste Sohn in der Familie. Der Vater befand sich auf der Seite der Verlierer, was Jungen, die alt genug waren, eine Waffe zu tragen, in Gefahr brachte.
    Mit der Zeit wendet sich das Gespräch den Themen Schullaufbahn und Ausbildungen im Ausland zu. Der Sohn merkt, dass sein Vater stiller ist als gewöhnlich. Nach dem Essen kehrt er nicht in sein Zimmer zurück, sondern leistet den Erwachsenen Gesellschaft. Inzwischen kreist das Gespräch um Abschied und Sehnsucht. Schließlich wird die Frage gestellt, auf die er gewartet hat: Wann hat der Vater sein Heimatland verlassen und warum? Es ist die Ehefrau des Landsmannes, die sich danach erkundigt. Der Befragte schweigt, schaut sich um, seufzt und lacht gleichzeitig. Anschließend erzählt er, was der Sohn schon oft gehört hat. Dass er als Sechzehnjähriger nach Athen gegangen ist. Dass er das Gymnasium besuchte und gern schwarze Hemden trug – »nicht wie die Rechten, sondern wie die Anarchisten«. Dass er an Tuberkulose erkrankte und deshalb die Ableistung seiner Wehrpflicht aufgeschoben wurde. Dass er während einer Demonstration sein Hemd am Fahnenmast seiner alten Schule hisste. Dass dies an einem Freitag geschah, einem schwarzen Freitag. Dass er von der Sicherheitspolizei gesucht wurde und erkannte, während eine kalte Hitze seinen Körper durchlief, dass er soeben seine Zukunft aufs Spiel gesetzt hatte. Dass eine Schwester in sein Heimatdorf fuhr und es ihr dank des dortigen Polizeichefs, der ein Freund der Familie war, gelang, einen Pass und ein Ausreisevisum zu besorgen, bevor die Suche nach dem Vater am folgenden Montag wiederaufgenommen wurde. Dass er das Land mit nur wenigen Dollar und einer Adresse in der Tasche verließ. Dass er nach Lausanne reiste, wo ein Bekannter eines Bekannten wohnte, zwei Wochen später jedoch nach Wien weiterreiste ...
    Während die Frau staunt, dass ein Hemd Grund genug sein kann, um einen zum Verlassen seines Landes zu zwingen, dreht der Vater ein Obstmesser. Etwas an seinem Verhalten wirkt unschlüssig. Als gebe es in der Vergangenheit mehrere Türen und als könne er sich nicht entscheiden, welche von ihnen er nehmen soll. Zum ersten Mal spürt der Sohn, dass der Vater seine eigene Geschichte ungern erzählt.

Im Labyrinth

    DER GESTERBTE : Die Vergangenheit besteht aus vielen Türen. Nicht jede lässt sich öffnen.

Introvertierter Ikaros

    Danach denkt der Sohn über Ereignisse nach, die sich nicht zurückverfolgen lassen. Die in einem Menschen eingeschlossen bleiben, unerreichbar für andere und vielleicht auch für ihn selbst. Die möglicherweise sogar ausradiert werden. Solche Ereignisse lassen sich nur als Abwesenheit darstellen. Und deshalb regt sich im Sohn allmählich der Verdacht, dass er es

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