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Die halbe Sonne

Die halbe Sonne

Titel: Die halbe Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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rückt, erklärt der Sohn, dass er die Schildkröte mitnehmen möchte, die er gefunden hat. Schließlich gibt die Mutter nach – solange sie mit der Sache nichts zu tun hat. Der Junge nickt dienstbeflissen, könnte nicht einverstandener sein. Auf der Reise wohnt das Tier in einem Schuhkarton. Bekommt Wasser aus einer Flasche, wird mit Gras gefüttert, schläft die meiste Zeit. So überlebt es ein brütend heißes Griechenland, ein verregnetes Jugoslawien und ein Österreich, in dem die Pullover ausgepackt werden. Dann endet die Fahrt. An dem Morgen, an dem der Wagen umgepackt wird, finden sie die Schildkröte tot in ihrem Karton. Als die Mutter sie unter dem kühlen Morgentau beerdigt, begreift der Sohn, dass nicht jeder stark genug ist, um auszuwandern.

Erwachsenenleben

    In der Woche vor ihrer Rückreise treffen schwedische Nachbarn ein. Sie sind auf der Durchreise und nehmen das Angebot, übernachten zu dürfen, ernst. Der Vater, der über weniger Betten verfügt, als er sich wünschen würde, schlägt einen Ausflug vor. Man einigt sich auf die mittlere Landzunge des Peloponnes, woher seine Familie ursprünglich stammt. Dort gibt es eine sehenswerte Höhle. Nach zwei Tagen in den Bergen und im Hotel sehnen sich alle danach, schwimmen zu gehen. Einige Kilometer von der nächstgelegenen Siedlung entfernt findet man einen Strand. Die Autos suchen sich einen Weg durch die Flur. Kurze Zeit später können alle das Meer zuerst hören und unmittelbar darauf auch sehen – dann bleibt man im Sand stecken. Der Vater trägt Taschen und Sonnenschirm hinunter. Er hat nicht vor, sich unterkriegen zu lassen. Das Heimatland soll von seiner besten Seite erlebt werden.
    Rasch vergräbt er die Wassermelone am Ufersaum, dann versucht er sich zu sonnen, aber dazu fehlt ihm die nötige Geduld. Nach dem Mittagessen, das mit kalter Melone beendet wird, teilt er mit, die Erwachsenen wollten einen Spaziergang machen. Der Sohn erhält den Auftrag, auf die Kinder aufzupassen. Die Zeit vergeht. Gegen fünf macht der Sohn jedoch wabernde Flecken am Horizont aus. Langsam nähern sich, sonnengebräunt und aufgekratzt, vier immer größer werdende Menschen. Nun sieht er, dass einige von ihnen keine Badebekleidung tragen. Der Sohn schämt sich bei diesem Anblick, der Sohn findet das entsetzlich. Sicher, das sind die Siebziger, aber ist er der einzige Erwachsene in der Gruppe? Vor Ärger krebsrot stürmt er zu den Autos hinauf, denen der Sand bis zu den Felgen steht. Er scheißt darauf, sich von seiner besten Seite zu zeigen.

Nicht jugendfrei

    In den ersten Jahren sind die Eltern nie etwas anderes als Eltern. An einem Wochenendmorgen entdeckt der Sohn jedoch auf einem Nachttisch eine schlotterige Gummihülle. Weil er nicht weiß, was das ist, verknüpft er sie nicht mit etwas Verbotenem. Die Tatsache, dass es für diese Hülle keine Erklärung gibt, ist jedoch Grund genug, sich ihrer zu erinnern. Offenbar haben die Eltern Geheimnisse, an denen sie andere nicht teilhaben lassen.
    Erst als seine Stimmbänder unfreiwillige Verwandlungen durchlaufen, erkennt der Sohn, was dieser Gegenstand war. Als er über den gelblich weißen Stalagmiten nachsinnt, der aus der Höhle stammt, die sie mit den Nachbarn besucht haben, und der nunmehr neben den guten Gläsern auf grünem Filz ruht, wandern seine Gedanken ohne weiteres zu der Gummihülle. Was ihm jenen unerträglichen Tag am Strand in Erinnerung ruft. Ist der Stalagmit nicht eine ältere Version des bleichen Pendels an einem braungebrannten Vater?

Ghamó tin ...

    Bevor die Familie in den Norden umzieht, wohnt man in der Stadt, in die man einige Jahre später zurückkehren wird. Im Unterschied zu dem mittelschwedischen Ort, in dem ausländische Väter ausnahmslos finnischer Herkunft sein werden, gibt es hier viele verschiedene Sorten. Ein Kollege kommt aus Las Vegas und verfolgt die Truppenbewegungen in Vietnam mit Hilfe verschiedenfarbiger Stecknadeln auf einer Karte. Als Wehrdienstverweigerer sind seine politischen Ansichten über jeden Zweifel erhaben. Dennoch kann er seinen Stolz über amerikanische Vormärsche nicht verbergen, was zu Spannungen am Arbeitsplatz führt. Ein anderer Kollege ist polnischer Jude und spricht ein so unverständliches Schwedisch, dass er erleichtert zu Deutsch wechselt, als sich herausstellt, dass man diese Sprache beherrscht, obwohl man vom Balkan stammt. Andere Kollegen sind ungarischer und tschechoslowakischer Herkunft. Jeder von ihnen spricht ein beschränktes

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