Die halbe Sonne
schätzen lernen muss, wenn der Vater auch aus Unzugänglichkeit besteht.
Er stellt sich Dinge vor, wie sie in den Büchern vorkommen, die er verschlingt: Verrat, Wunder und Heldenmut, unerwiderte Liebe und stechende Hilflosigkeit. Aber ihm schwebt auch eine schmale Hoffnung vor, die bis zum Filter heruntergeraucht wird und wie ein Glühwürmchen in der nächtlichen Dunkelheit zittert, an einer unsichtbaren Hand, bis sie nach einigen unruhigen Bewegungen wie ein Faden aus glühendem Licht viele Meter voraus verschwindet. Der Sohn denkt, wenn es einem Menschen nicht gelingt, Erlebnisse dieser Art auszuradieren, müssen sie zusammengerollt und eingekapselt werden. Zerstörung mag ihre Absicht sein, Schaden ihr Ziel, aber wenn sie von den eigenen Händen oder denen anderer umschlossen werden, stillschweigend gepflegt, können sie vielleicht weiterleben, ohne Schaden anzurichten. Getrocknete Sonnenblumen. Knäuel aus gefrorenem Feuer. Rotverschiebung.
Viel später fragt er sich, ob ihn der Faden, dem er folgt, zu einer Tür führen wird, hinter der noch immer etwas Heimliches brennt. Außerdem fragt er sich, ob es dessen Wärme ist, was er, sanft, aber kitzelnd, in seiner Handfläche spürt, wenn er sich bückt und die Fußspuren des Vaters berührt. Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass Handflächen auch die Aufgabe haben zu schützen.
Besteck
MESSER . Als keiner am Tisch etwas sagt, lehnt sich der Vater vor und rollt die letzte Apfelsine zu sich wie die Katze einen Ball – konzentriert und zugleich verspielt. Wohl wissend, dass ihm die Aufmerksamkeit der Familie gehört, greift er nach dem Messer. Ruhig und systematisch schneidet er acht Furchen von Pol zu Pol. Anschließend entfernt er die orangefarbigen Blätter, teilt die Schnitze auf und schiebt sie wie Gondeln in die Tischmitte. Zu seinem Erstaunen möchte keiner mehr etwas. Als er ergebnislos gedrängt hat, isst er selbst sämtliche Schnitze – sorgsam, bedächtig. »Mmwiesonne«, sagt er, als er sich mit dem Handrücken den Mund abwischt. Die Finger glänzen.
GABEL . Eines Jahres wird Ostern im Heimatland des Vaters gefeiert. Am Sonntag ist die Familie bei jemandem eingeladen, den er nur flüchtig kennt. Es zeigt sich, dass der Gastgeber ein großes Haus mit Pferdestall, Swimmingpool und Schafherde besitzt. Er empfängt sie mit einem Küchenhandtuch im Hosenbund und stellt ihnen der Reihe nach Männer vor, die allesamt Brüder oder Schwäger sind, und von denen mehrere im Ausland arbeiten. Der Sohn wird hinzugerufen, um von seinem Plan zu erzählen, in Heidelberg Medizin zu studieren. Danach wird ihm die Ehre zuteil, die Delikatessen auf dem Grill zu kosten. Höflich nimmt er die Gabel entgegen, bleibt dann im Kreise der Männer jedoch unsicher stehen. Sein Magen revoltiert, der Vater befreit ihn von der Gabel. Langsam senkt er das Essen in seinen Mund, kaut gewissenhaft, schluckt genüsslich. Anschließend entschuldigt er sein Benehmen – aber als er die Lammhoden sah, habe er sich einfach nicht beherrschen können. » Thaúma «, erklärt er an den Gastgeber gewandt. Der Sohn lächelt verkrampft, fühlt sich zwei Nummern zu groß.
UND LÖFFEL . Der Vater, der weiß, wo die Birnen in Cognac sind, ruft nach dem Sohn. Er gibt ihm einen Löffel, dann öffnet er den Mahagonischrank, in dem auf grünem Filz manierlich die guten Gläser zittern. Ganz hinten findet er das Glas mit seinem in braungelben Tönen schimmernden Inhalt. Als der Sohn den Kopf schüttelt, entfernt der Vater die Versiegelung, aus der hervorgeht, dass die Birnen auf einem Schweizer Flugplatz gekauft wurden. Er steckt den Löffel hinein, kostet den Sud, lächelt. Nach zwei Fruchthälften schert er sich nicht mehr um den Löffel, führt das Gefäß stattdessen direkt zum Mund. Der alkoholhaltige Sirup läuft aus den Mundwinkeln, er hat kaum geschluckt, ehe er seine Zähne schon in die nächste Hälfte schlägt. »Nun kommt schon«, stöhnt er und versucht auch noch die letzten Fetzen mit der Zungenspitze zu erreichen. Dann schraubt er den Deckel zu. Auf seinem Nasenrücken sieht man den Abdruck des Glasrandes.
El Desdichado
Man kann nur herzlich lachen, wenn ein frischgebackener Punker behauptet, sich nicht sicher sein zu können, ob seine Eltern wirklich seine richtigen Eltern seien. Bei seinen Geschwistern verhält es sich anders: Immerhin hat er mit eigenen Augen den Bauch der Mutter wachsen sehen. Nicht weniger als drei Mal. Aber wie wollen sie beweisen, dass er dieselben Wurzeln
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