Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
sich im Zaum zu halten. »Sie haben jetzt die Chance, alles zu erklären.«
»Kann ich mich hinsetzen?«
»Von mir aus können Sie sich auf den Kopf stellen. Aber reden Sie, und zwar schnell!«
Gurney ließ sich auf dem Stuhl bei der zerborstenen Lampe nieder. »Er war kurz davor, Sie zu erschießen. Noch zwei Sekunden, und Sie hätten eine Kugel im Hals gehabt - oder im Kopf oder im Herzen. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn aufzuhalten.«
»Sie haben nichts von aufhalten gesagt, sondern nur, dass er mich abknallen soll.« Nardo hatte die Fäuste so heftig geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Aber er hat es nicht getan.«
»Sie haben ihn dazu aufgefordert.«
»Weil es die einzige Möglichkeit war, ihn zu stoppen.«
»Die einzige Möglichkeit … Sind Sie komplett übergeschnappt?« Nardo starrte ihn an wie ein mörderischer Köter, der nur darauf wartet, von der Leine gelassen zu werden.
»Tatsache ist, dass Sie leben.«
»Sie behaupten also, dass ich lebe, weil Sie ihn aufgefordert haben, mich zu töten? Wollen Sie mich verarschen?«
»Bei Serienmorden geht es um Kontrolle. Totale Kontrolle. Für den verrückten Gregory hat das bedeutet, dass er nicht nur die Gegenwart und Zukunft steuern wollte, sondern auch die Vergangenheit. Die Szene, die Sie spielen sollten, war die Tragödie, die vor vierundzwanzig Jahren in diesem Haus passiert ist - allerdings mit einem
entscheidenden Unterschied. Damals konnte der kleine Gregory seinen Vater nicht davon abhalten, seiner Mutter die Kehle aufzuschlitzen. Sie hat sich nie mehr davon erholt, und er auch nicht. Der erwachsene Gregory wollte das Band zurückspulen und wieder von vorn abspielen, um den Lauf der Dinge zu ändern. Sie sollten alles genauso machen wie damals sein Vater, bis zu dem Punkt, wo er die Flasche hochgerissen hat. Da wollte er Sie erschießen - um den schrecklichen Besoffenen loszuwerden, um seine Mutter zu retten. Und das ist auch die Erklärung für die anderen Morde: Er hat Trinker gebändigt und getötet, um Jimmy Spinks zu bändigen und zu töten.«
»Gary Sissek war kein Trinker.«
»Vielleicht nicht. Aber Gary Sissek war zur gleichen Zeit bei der Polizei wie Jimmy Spinks, und ich wette, dass Gregory einen Freund seines Vaters in ihm erkannt hat. Vielleicht sogar einen gelegentlichen Trinkkumpan. Und aufgrund der Tatsache, dass auch Sie damals schon bei der Truppe waren, waren Sie für Gregory wahrscheinlich das ideale Double - ideal, um in die Vergangenheit zurückzugehen und die Geschichte zu verändern.«
»Aber Sie haben ihn aufgefordert, mich abzuknallen!« Nardo klang noch immer streitlustig, doch zu Gurneys Erleichterung schien sein Widerstand allmählich zu bröckeln.
»Ich habe ihn aufgefordert, Sie abzuknallen, weil man einen kontrollbesessenen Mörder ohne Waffe nicht anders aufhalten kann. In so einem Fall muss man Dinge sagen, die ihn daran zweifeln lassen, dass er die Kontrolle hat. Zu seiner Kontrollfantasie gehört, dass er alle Entscheidungen trifft - dass er allmächtig ist und kein anderer Macht über ihn hat. Und nichts bringt einen Kontrollfreak so ins Schleudern wie die Möglichkeit, dass er
genau das tut, was man von ihm will. Wenn man ihm offen entgegentritt, wird man getötet. Wenn man um sein Leben fleht, wird man getötet. Aber wenn man ihm sagt, dass man genau das will, was er sowieso schon vorhat, dann knallen bei ihm die Sicherungen durch.«
Nardo schien angestrengt nach einem logischen Fehler in Gurneys Erklärung zu suchen. »Sie haben sich sehr… echt angehört. In Ihrer Stimme war ein Hass, als hätten Sie mich wirklich am liebsten tot gesehen.«
»Wenn ich nicht überzeugend gewesen wäre, würden wir uns jetzt nicht unterhalten.«
Nardo wechselte das Thema. »Und was ist mit dem Penner am Busbahnhof?«
»Was soll mit dem sein?«
»Haben Sie ihn erschossen, weil er Sie an ihren betrunkenen Vater erinnert hat?«
Gurney lächelte.
»Was ist daran komisch?«
»Zwei Sachen. Erstens habe ich nie in der Nähe des Busbahnhofs Port Authority gearbeitet. Zweitens habe ich in fünfundzwanzig Dienstjahren meine Waffe nie benutzt - außer am Schießstand.«
»Das war also alles Quatsch?«
»Mein Vater hat zu viel getrunken. Es war … schwierig. Selbst wenn er da war, war er nicht da. Aber einen Fremden zu erschießen hätte mir bestimmt nicht geholfen.«
»Wozu dann diese ganzen Geschichten?«
»Wozu? Damit es so kommt, wie es gekommen ist.«
»Was soll das heißen, verdammt?«
»Mein
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