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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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voneinander.« Die Stimme des Lieutenant klang professionell und neutral. Er bot Gurney nicht die Hand.

53
    Ende, Anfang
    Als Gurney die Tappan Zee Bridge hinter sich hatte und die lange Strecke auf der Route 17 begann, wurde der Schneefall dichter, und die sichtbare Welt schrumpfte zusammen. Alle paar Minuten öffnete er das Seitenfenster, um seinen müden Kopf mit kalter Luft zu erfrischen.
    Wenige Kilometer vor Goshen wäre er fast von der Straße abgekommen. Nur das laute Vibrieren der Reifen auf dem gerippten Belag des Randstreifens verhinderte, dass er über eine Böschung schoss.
    Er versuchte, an nichts anderes zu denken als an das Auto, das Steuer und die Straße, aber es war unmöglich. Stattdessen stellte er sich den zu erwartenden Medienzirkus vor, beginnend mit einer Pressekonferenz, bei der sich Sheridan Kline garantiert dazu gratulieren würde, dass seine Ermittler entscheidend dazu beigetragen hatten, einem teuflischen Verbrecher das Handwerk zu legen und Amerika sicherer zu machen. Die Medien gingen Gurney sowieso auf die Nerven. Ihre schwachsinnige Berichterstattung über Verbrechen war bisweilen selbst ein Verbrechen. Sie machten ein Spiel daraus. Allerdings tat er das auf seine Art auch. Er betrachtete einen Mord als Rätsel, das es zu lösen, und einen Mörder als einen Gegner, den es zu überlisten galt. Er vertiefte sich in die Fakten, ging den Anhaltspunkten nach, stellte die Falle und übergab
die Beute den Mühlen der Justiz. Und dann weiter zum nächsten nicht natürlichen Todesfall, für dessen Klärung ein scharfer Verstand benötigt wurde. Doch manchmal betrachtete er die Dinge völlig anders - wenn er müde war von der Jagd, wenn die Dunkelheit alle Puzzleteilchen gleich aussehen ließ, wenn sein gehetztes Gehirn von seinem geometrischen Muster abschweifte, primitiveren Pfaden folgte und ihn das wahre Grauen des Gegenstands erahnen ließ, mit dem er sich aus freien Stücken befasste.
    Auf der einen Seite standen die Logik des Gesetzes, die Wissenschaft der Kriminologie, die gerichtliche Urteilsfindung. Auf der anderen Jason Strunk, Peter Possum Piggert, Gregory Dermott, Schmerz, mörderischer Zorn, der Tod. Und zwischen diesen zwei Welten lauerte die beunruhigende Frage, was das eine mit dem anderen zu tun hatte.
    Erneut ließ er sich durch einen Spalt im Seitenfenster einen heftigen Schwall Schnee ins Gesicht blasen.
    Tiefreichende und sinnlose Fragen, innere Dialoge, die ins Nichts führten, waren für sein Innenleben so normal wie für jemand anderen, die Siegchancen der Red Sox im nächsten Spiel zu taxieren. Dieses Denken war eine schlechte Angewohnheit, die ihm nicht weiterhalf. Wenn er gelegentlich starrköpfig darauf bestand, Madeleine damit zu konfrontieren, reagierte sie mit Langeweile und Ungeduld.
    »Was macht dir in Wirklichkeit zu schaffen?«, fragte sie mitunter, hörte auf zu stricken und schaute ihm in die Augen.
    »Was meinst du damit?« Doch eigentlich wusste er es ohnehin schon.
    »Dieser Unsinn kann dir doch unmöglich wichtig sein. Du musst rausfinden, was dich wirklich bedrückt.«

    Rausfinden, was dich wirklich bedrückt.
    Leichter gesagt als getan.
    Was bedrückte ihn denn? Die grenzenlose Unzulänglichkeit der Vernunft angesichts roher Leidenschaft? Die Tatsache, dass das Justizsystem ein Käfig ist, das den Teufel nicht besser bannen kann als eine Wetterfahne den Wind? Er wusste nur, dass irgendwo tief in seinem Bewusstsein etwas war, das an seinen Gedanken nagte wie eine Ratte.
    Als er das zersetzendste Problem im Chaos des zurückliegenden Tages dingfest machen wollte, brach eine Flut von Bildern über ihn herein.
    Schließlich konzentrierte er sich und versuchte, alle Gedanken zu verscheuchen, doch zwei Bilder wollten nicht verschwinden.
    Das erste war die grausame Freude in Dermotts Augen, als er seine furchtbaren Verse über Dannys Tod zitierte. Das andere war ein Widerhall der gemeinen Anklage, mit der Gurney seinen Vater in dem erfundenen Bericht über den Angriff auf seine Mutter verleumdet hatte. Das war nicht nur gespielt gewesen. Von irgendwo ganz tief unten hatte sich ein furchtbarer Zorn erhoben und seine Worte genährt. Bedeutete diese authentische Basis, dass er seinen Vater hasste? War das, was sich in dieser hässlichen Geschichte entlud, die unterdrückte Wut des Verlassenseins - der erbitterte Groll eines Kindes gegen einen Vater, der nichts anderes tat als arbeiten, schlafen und trinken, gegen einen Vater, der immer nur in der Ferne

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