Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
entschwand und unerreichbar blieb? Gurney war erschrocken darüber, wie viel er mit Dermott gemeinsam hatte.
Oder war es das Gegenteil - ein Schleier, hinter dem sich Schuldgefühle verbargen, weil er diesen eisigen, einsamen Mann im Alter im Stich gelassen hatte, weil er so wenig wie nur möglich mit ihm zu tun haben wollte?
Oder war es womöglich verdrängter Selbsthass, dessen Ursache in seinem eigenen doppelten Versagen als Vater lag - durch tödliche Achtlosigkeit gegen den einen Sohn und aktives Ausweichen gegen den anderen.
Madeleine würde wahrscheinlich sagen, dass jede oder keine dieser Antworten zutreffen konnte; dass es aber sowieso nicht wichtig war. Wichtig war nur, dass man tat, was man hier und jetzt im Grunde seines Herzens für richtig hielt. Und wenn ihm das zu beängstigend erschien, würde sie vielleicht vorschlagen, dass er mit einem schlichten Rückruf bei Kyle begann. Nicht dass sie Kyle besonders mochte - sie fand seinen Porsche albern und seine Frau überheblich -, aber für Madeleine hatte richtiges Handeln immer Vorrang vor persönlicher Chemie. Wieder einmal wunderte sich Gurney, wie ein derart spontaner Mensch so starke Prinzipien haben konnte. Das war das Besondere an ihr. Das machte sie zum Leuchtfeuer im Dunkel seiner Existenz.
Richtiges Handeln, hier und jetzt.
Obwohl es drei Uhr morgens war, bremste er spontan auf der breiten, verwahrlosten Zufahrt zu einer alten Farm und zückte die Brieftasche, um Kyles Nummer herauszusuchen. (Er hatte sich nie die Mühe gemacht, Kyles Namen in sein Handy einzugeben.) In Seattle war es zwar drei Stunden früher, trotzdem kam es ihm leicht verrückt vor, ihn so spät noch anzurufen. Aber die Alternative war schlimmer: Er würde es aufschieben und wieder aufschieben und schließlich Gründe dafür finden, sich überhaupt nicht zu melden.
»Dad?«
»Hab ich dich aufgeweckt?«
»Nein, ich war noch auf. Alles in Ordnung bei dir?«
»Mir geht’s gut. Ich, äh … ich wollte nur mit dir reden,
dich zurückrufen. Ich war da wohl etwas nachlässig, anscheinend versuchst du schon länger, mich zu erreichen.«
»Wirklich alles in Ordnung?«
»Ich weiß, ein Anruf um diese Zeit ist merkwürdig, aber keine Sorge. Mir geht’s gut.«
»Schön.«
»Ich hatte einen schweren Tag, aber letztlich ist alles glattgegangen. Der Grund, warum ich nicht früher zurückgerufen habe … Ich hab tief in einer komplizierten Sache gesteckt. Aber das ist keine Entschuldigung. Brauchst du irgendwas von mir?«
»Was für eine Sache?«
»Was? Ach, das Übliche. Mordermittlung.«
»Ich dachte, du warst im Ruhestand.«
»War ich auch. Ich meine, bin ich auch. Aber ich bin reingezogen worden, weil ich eins der Opfer kannte. Lange Geschichte. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, erzähl ich dir alles.«
»Wow! Du hast es wieder geschafft.«
»Was?«
»Du hast wieder einen Massenmörder gefasst, stimmt’s?«
»Woher weißt du das?«
»Du hast von Opfern gesprochen, im Plural. Wie viele waren es?«
»Fünf, von denen wir wissen, und Pläne für zwanzig weitere.«
»Und du hast ihn erwischt. Verdammt, gegen dich haben Massenmörder keine Chance. Du bist wie Batman.«
Gurney musste lachen. Das war ihm in jüngster Zeit nur selten passiert. Und er konnte sich gar nicht erinnern, wann zuletzt in einem Gespräch mit Kyle. Und wenn er es sich genau überlegte, war es auch sonst eine ziemlich ungewöhnliche Unterhaltung: Sie redeten schon seit zwei
Minuten, und Kyle hatte noch nichts erwähnt, was er gekauft hatte oder kaufen wollte.
»In diesem Fall hatte Batman viel Hilfe«, erklärte Gurney. »Aber deswegen hab ich nicht angerufen. Ich wollte hören, was bei dir so los ist. Gibt’s was Neues?«
»Nicht viel«, erwiderte Kyle trocken. »Hab meinen Job verloren. Kate und ich, wir haben uns getrennt. Vielleicht wechsle ich den Beruf und studiere Jura. Was meinst du dazu?«
Nach kurzem schockierten Schweigen lachte Gurney noch lauter. »Mannomann! Was ist denn passiert?«
»Die Finanzbranche ist zusammengebrochen - das hast du vielleicht mitgekriegt -, und jetzt ist mein Job weg, zusammen mit meiner Ehe, meinen zwei Eigentumswohnungen und meinen drei Autos. Aber es ist erstaunlich, wie schnell man sich nach so einer Katastrophe umstellt. Jedenfalls frage ich mich momentan, ob ich es nicht mit einem Jurastudium probieren sollte. Denkst du, das wäre was für mich?«
Gurney schlug seinem Sohn vor, ihn am Wochenende zu besuchen, dann konnten sie so ausführlich
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