Die Hassliste: Roman (German Edition)
wie man damit fährt. Ist das nicht der Hammer?«
»Das ist der Hammer, echt«, sagte ich mit so viel Überzeugung, wie ich aufbringen konnte. Es war super, FrankiesLächeln und seine Aufregung zu sehen, auch wenn ich nicht auch nur eine Minute lang daran glaubte, dass Dad ihm irgendwas kaufen würde. Das wäre so … na ja, so richtig was, was Väter taten … und wir wussten beide, dass Dad kein bisschen väterlich war.
»Du kannst auch mal drauf fahren«, sagte er. »Wenn du, na ja, wenn du auch irgendwann mal mit zu Dad kommst.«
»Danke. Macht bestimmt Spaß.«
Er saß noch eine Weile bei mir herum, schien sich dabei aber total unwohl zu fühlen. Als gute Schwester hätte ich ihm sagen müssen, dass er lieber losziehen und irgendwas tun sollte, was ihm mehr Spaß machte. Aber es war okay, hier mit ihm zu sitzen. Er strahlte irgendwas aus, das mir ein gutes Gefühl gab. Ein hoffnungsvolles Gefühl.
Aber er stand bald wieder auf. »Tja. Ich muss jetzt los zu Mike. Wir gehen heute Abend in die Kirche.« Er zog kurz den Kopf ein, als wäre ihm das mit der Kirche peinlich. Dann ging er zur Tür. »Na ja … bis dann«, sagte er betreten. Und dann war er verschwunden.
Ich sank zurück in meine Kissen und schaute zu, wie die Pferde auf meiner Tapete nirgendwohin liefen. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, ich würde wieder auf einem von ihnen reiten, so wie ich das als kleines Kind getan hatte. Aber ich brachte es nicht fertig. Ich sah nur Pferde, die scheuten und mich immer wieder abwarfen, sodass ich mit dem Hintern auf den harten Boden knallte. Die Pferde hatten Gesichter – das von Dad, das von Mr Angerson, das von Troy und von Nick. Auch mein eigenes war darunter.
Nach einer Weile drehte ich mich auf den Rücken und starrte die Decke an. Dabei wurde mir klar, dass es etwas gab, was ich tun musste. Die Vergangenheit konnte ich nicht ändern. Aber wenn ich mich jemals wieder ganz fühlen wollte, musste ich mich von ihr verabschieden. Morgen, sagte ich mir. Morgen ist der Tag dafür.
Obwohl ich noch nie an Nicks Grab gewesen war, wusste ich genau, wo es war. Zum einen hatten sie es in den ersten beiden Monaten nach dem Amoklauf ungefähr alle zehn Sekunden in den Nachrichten gezeigt. Zum andern hatte ich oft genug Leute darüber reden hören, um es mir ganz gut vorstellen zu können.
Ich hatte keinem erzählt, dass ich heute hierherkommen wollte. Wem auch? Mom? Die würde nur weinen, es mir verbieten, mich wahrscheinlich bis hierher verfolgen und mich durchs offene Autofenster anschreien. Dad? Na ja, unsere diplomatischen Beziehungen lagen sozusagen auf Eis. Dr. Hieler? Ihm hätte ich es erzählt, aber bei unserem letzten Termin hatte ich noch nicht gewusst, dass ich hierher wollte. Wahrscheinlich hätte ich es tun sollen, denn Dr. Hieler hätte mich bestimmt hergefahren und dann würde mir mein Bein nicht so wehtun von dem weiten Weg, wie das jetzt der Fall war. Meinen Freunden? Tja, die hatte ich im Prinzip alle aus meinem Leben gekickt, könnte man sagen.
Ich lief an ein paar Reihen von gut gepflegten Gräbern vorbei, mit ordentlich polierten Grabsteinen und frischem Blumenschmuck, und fand Nicks Grab zwischen dem seines Großvaters Elmer und dem seiner Tante Mazie. Von beiden hatte ich gehört, sie aber nicht persönlich kennengelernt.
Eine Weile lang stand ich nur da und schaute. Der Wind, der den Winter eben erst abstreifte, strich mir um die Fußgelenke und ließ mich frösteln. Alles an dieser Szene passte – meine Verzweiflung, der Schmerz in meiner Brust von der körperlichen Anstrengung, die kühle Luft, der Wind, das viele Grau um mich herum. Genau so sollte es an Gräbern sein, oder? In Filmen war es jedenfalls immer so auf Friedhöfen. Kalt und düster. Ob wohl jemals die Sonne schien, wenn man die letzte Ruhestätte von jemandem besuchte, den man liebte? Ich konnte es mir nicht vorstellen.
Nicks Grab blitzte genau wie die andern drum herum, die Wolken am fast ganz bedeckten Himmel ließen große graue Schatten über die Inschrift ziehen. Trotzdem konnte ich sie lesen:
NICHOLAS ANTHONY LEVIL
1990 – 2008
Geliebter Sohn
Die Worte
Geliebter Sohn
überwältigten mich. Die Buchstaben waren klein und schräg gesetzt und sie verschwanden beinahe im Gras. Wie als Abbitte. Ich dachte an Nicks Mutter.
Natürlich hatte ich sie nach dem Amoklauf immer wiederim Fernsehen zu Gesicht bekommen, aber das hatte mit der echten Person wenig zu tun
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