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Die Hassliste: Roman (German Edition)

Die Hassliste: Roman (German Edition)

Titel: Die Hassliste: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Brown
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meine tragische Neigung sein.« So hätte Nick das genannt, wenn ich eine leidende Figur in einem seiner geliebten Shakespeare-Dramen gewesen wäre.
    Duce rutschte ganz auf die Seite der Bank und tätschelte den Beton neben sich. Ich stand auf und setzte mich zu ihm. Er beugte sich zu mir und nahm meine Hand. Er trug Handschuhe und die Wärme seiner Berührung hüllte meine Hand ein und strömte durch meinen ganzen Körper.
    »Meinst du, er hat es für mich getan?«, fragte ich leise.
    Duce überlegte und spuckte dann auf den Boden vor seinen Füßen. »Ich glaub, er hat keine Ahnung gehabt, warum er’s tut, echt, Mann.« Diese Möglichkeit war mir noch nie in den Sinn gekommen. Vielleicht hatte ich gar nicht wissen können, was Nick vorhatte, weil Nick es nicht mal selbst wusste.
    Er ließ meine Hand los, die ohne die Wärme seines Handschuhs schnell wieder fror, und legte den Arm um mich. Das war ein seltsames Gefühl, aber nicht unbedingt schlecht. Im Grunde konnte ich Nick nie mehr wieder näher sein als hier auf der Bank zusammen mit Duce. Im Grunde war es, als hätte Nick seinen Arm um mich gelegt, als würde ich Nicks Wärme neben mir spüren. Ich schmiegte den Kopf in seine Schulterbeuge.
    »Kann ich dich was fragen?«, sagte er.
    Ich nickte.
    »Wenn du ihn so geliebt hast, warum bist du bis jetzt nie hierhergekommen?«
    Ich kaute auf meiner Lippe herum, dachte nach. »Weil ich nicht wirklich das Gefühl hatte, dass er hier wäre. Er ist für mich immer noch überall gewesen, wo ich hingeguckt habe, da kam es mir unmöglich vor, dass irgendwas von ihm hier sein könnte.«
    »Er war mein bester Freund«, sagte Duce. »Weißt du das?«
    »Meiner auch.«
    »Das weiß ich«, sagte er. In seiner Stimme lag ein Hauch von Härte, aber er redete leise. »Glaub ich zumindest. Na ja, egal.«
    Eine Weile lang saßen wir schweigend da und starrten beide Nicks Grab an. Es wurde immer windiger, der Himmelverdunkelte sich und Blätter wirbelten in immer engeren Kreisen um meine Knöchel, was mich unruhig machte. Als ich zu zittern begann, zog Duce seinen Arm von mir weg und stand auf.
    »Ich muss los.«
    Ich nickte. »Bis dann.«
    Nachdem Duce gegangen war, blieb ich noch ein paar Minuten da. Ich starrte Nicks Grab an, bis meine Augen tränten und meine Zehen taub vor Kälte waren. Schließlich stand ich auf und schubste mit dem Fuß ein Blatt von der Grabplatte.
    »Tschüss, Romeo«, sagte ich leise.
    Zitternd ging ich weg, ohne mich noch einmal umzusehen, obwohl ich wusste, dass ich kein zweites Mal an sein Grab kommen würde. Er war Mas
geliebter Sohn
. Die Worte, die in die Granitplatte eingraviert waren, sagten gar nichts über mich.

 
    Als ich nach Hause kam, parkte in der Auffahrt ein Streifenwagen, dahinter das Auto von Dad und dann stand da noch ein ramponierter roter Jeep. Eine böse Vorahnung überkam mich. Ich stapfte auf die Haustür zu und schloss sie auf.
    »Gott sei Dank!«, rief Mom aus, düste vom Wohnzimmer zur Eingangstür und warf sich mir um den Hals.
    »Mom   …?«, sagte ich. »Was ist   …«
    Ein Polizist in Uniform folgte ihr in den Flur. Er sah aus, als wäre er nur äußerst ungern hier. Direkt hinter ihm tauchte Dad auf, der noch unwilliger wirkte als der Polizist. Ich spähte ins Wohnzimmer und sah Dr.   Hieler dort auf der Couch sitzen. Die Falten in seinem Gesicht ließen es hart und müde erscheinen.
    »Was ist los?«, fragte ich und machte mich von Mom los. »Dr.   Hieler   …? Ist irgendwas passiert?«
    »Wir wollten gerade eine Vermisstenmeldung aufgeben«, sagte Dad, seine Stimme war brüchig vor Wut. »Herrgott noch mal, was kommt denn noch alles?«
    »Eine Vermisstenmeldung? Wieso?«
    Aber da kam schon der Polizist auf mich zu. »Bestimmt willst du nicht als Ausreißerin aufgegriffen werden«, sagte er zu mir. »Und genau das wäre passiert.«
    »Ausreißerin? Das stimmt doch gar nicht. Ich bin nicht abgehauen. Mom   …«
    Der Polizist steuerte auf die Eingangstür zu, gefolgt von Mom, die sich bei ihm bedankte und sich entschuldigte. Weil das Funkgerät an seiner Schulter quäkte, konnte ich kaum verstehen, was sie sagten.
    Dr.   Hieler stand auf und zog sich seine Jacke über. Als er auf mich zukam, wirkte sein Gesicht durcheinander und traurig und wütend und erleichtert, alles zugleich. Wieder dachte ich an seine Familie zu Hause. Welchen häuslichen Frieden hatte ich heute wohl gestört? Hoffte seine Frau vielleicht insgeheim, dass ich nie mehr auftauchen

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