Die Hassliste: Roman (German Edition)
schubste Leute aus dem Weg und Mrs Flores brüllte Befehle.
Auch Nick begann, sich durch die Menge zu schieben, und ließ mich allein mit Christy und dem vielen Blut überall. Ich drehte den Kopf und sah Willa direkt in die Augen.
»Mein Gott!«, kreischte irgendwer. »Hilfe! Warum hilft uns keiner?«
Ich glaube, ich bin das gewesen, aber bis heute weiß ich es nicht sicher.
[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Ginny Baker, 16 – Baker, eine der besten und erfolgreichsten Schülerinnen der Garvin-Highschool, verabschiedete sich Berichten zufolge gerade von ihren Freunden und wollte zum Unterricht gehen, als der erste Schuss fiel. Zeugenaussagen legen die Schlussfolgerung nahe, dass Baker zu dem Kreis jener Opfer gehört, die der Täter ganz bewusst auswählte: Levil bückte sich offenbar gezielt vor dem Tisch, unter dem sie sich versteckt hatte.
»Sie hat gekreischt: ›Hilf mir, Meg!‹, als er die Waffe auf sie gerichtet hat«, sagte ihre Schulkameradin Meghan Norris aus. »Aber ich hatte echt keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich hab nicht mal richtig kapiert, was da abläuft. Den ersten Schuss hab ich gar nicht gehört. Alles ging so schnell. Ich weiß nur, dass Mrs Flores auf einmal gebrüllt hat, wir sollen schnell unter die Tische und unsere Köpfe schützen, also haben wir das gemacht. Zufällig bin ich unter dem gleichen Tisch wie Ginny gelandet. Und er hat sie erwischt. Er hat keinen Ton zu ihr gesagt. Hat sich einfach nur gebückt, ihr die Knarre ins Gesicht gehalten, hat abgedrückt und ist weggegangen. Danach war sie total still. Sie hat nicht mehr gebettelt, ich soll ihr helfen, und ich hab gedacht, sie ist tot. So ausgesehen hat sie jedenfalls.«
Bakers Mutter war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Der Vater, der in Florida lebt, bezeichnete den Vorfall als »die schlimmste Tragödie, die Eltern sich nur vorstellen können«. Er fügte hinzu, er werde zurück in den Mittleren Westen ziehen, um seiner Tochter beizustehen. Es werden zahlreiche chirurgische Eingriffe notwendig sein, um ihr Gesicht zu retten.
***
»Dann hat deine Mom also heute wieder angefangen zu arbeiten?«, fragte Stacey. Wir standen mit unseren Tabletts in einer Schlange von Schülern und warteten auf unser Mittagessen. Gerade hatten wir zusammen Englisch gehabt. Die Atmosphäre im Unterricht war angespannt gewesen, aber immerhin so, dass ich damit klarkam. Ein paar Mädchen hatten sich gegenseitig Zettel geschrieben und Ginnys Platz war leer geblieben, ansonsten war nichts weiter passiert. Mrs Long, meine Englischlehrerin, gehörte zu der kleinen Gruppe von Lehrern, die den Dankesbrief von der Schulbehörde unterschrieben hatten. Ihre Augen waren feucht geworden, als ich ins Klassenzimmer kam, aber sie hatte nichts gesagt, sondern nur gelächelt und mir zugenickt. Nachdem ich an meinemPlatz angekommen war, hatte sie zum Glück einfach mit dem Unterricht angefangen.
»Ja, hat sie.«
»Meine Mutter hat deine Mutter neulich angerufen.«
Ich hielt inne, das Salatbesteck noch in der Hand über meinem Teller. »Echt? Und wie ist das gelaufen?«
Stacey sah mich nicht an, sondern hielt den Blick starr auf das Essenstablett vor ihr gerichtet. Ein Außenstehender hätte nicht erkennen können, ob wir zusammen hier in der Essensschlange standen oder ob sie nur Pech gehabt hatte und zufällig neben mir gelandet war. Wahrscheinlich war das genau in ihrem Sinn, denn in diesem Fall war es besser für sie, Pech zu haben.
Sie stellte ein Schüsselchen mit regenbogenbuntem Wackelpudding auf ihr Tablett. Ich nahm mir auch eins. »Du weißt ja, wie meine Mutter ist«, sagte sie. »Sie hat ihr gesagt, sie will nicht, dass unsere Familie weiter mit eurer zu tun hat. Sie findet, deine Mom ist eine schlechte Mutter.«
»Oh«, sagte ich. Mir war auf einmal seltsam zumute. Es war fast, als täte mir Mom leid – ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr zugelassen hatte. Meine Schuldgefühle zerrissen mich fast. Da war es viel leichter zu glauben, sie sähe in mir nichts als die schlimme Tochter, die ihr Leben ruiniert hatte. »Das sitzt.«
Stacey zuckte mit den Achseln. »Deine Mutter hat zu meiner Mom gesagt, sie soll sich ihr Gerede in den Arsch stecken.«
Das hörte sich echt nach Mom an. Trotzdem ist sie hinterher garantiert in ihr Zimmer gegangen und hat geheult. Sie und Mrs Brinks sind schließlich fünfzehn Jahre lang Freundinnen gewesen. Wir beide sagten nichts. KeineAhnung, wie
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