Die Hassliste: Roman (German Edition)
dem großen, dramatischen Geständnis verweigert hatte.
»Wo ist Dad?«, fragte ich irgendwann.
»Bei der Arbeit.«
Die nächste Frage hing schwer in der Luft und ich überlegte, ob ich sie vielleicht lieber nicht stellen sollte, aber dann entschied ich mich dafür. Mom wartete darauf und ich wollte sie nicht enttäuschen.
»Hält er mich auch für schuldig?«
Mom streckte die Hand aus und spielte mit der Fernbedienung herum, damit ihre Hände etwas zu tun hatten.
»Er weiß nicht, was er denken soll, Valerie. Zumindest behauptet er das.«
Das war eine Antwort, die genauso schwer in der Luft hing wie meine Frage, fand ich.
Zumindest behauptet er das.
Was sollte das denn heißen?
»Er hasst mich«, sagte ich.
Mom sah mich scharf an. »Du bist seine Tochter. Er liebt dich.«
Ich verdrehte die Augen. »Das musst du natürlich sagen. Aber ich weiß, wie es wirklich ist, Mom. Hasst du mich denn auch? Hasst mich jetzt jeder auf der Welt?«
»Sei doch nicht albern, Valerie«, sagte sie. Sie stand auf und schnappte sich ihre Handtasche. »Ich geh jetzt runter und hol mir ein Sandwich. Soll ich dir was mitbringen?«
Ich schüttelte den Kopf, und während Mom hinausging, fuhr mir grell wie ein Discoblitzer ein Gedanke durch den Kopf: Sie hatte nicht
Nein
gesagt.
Nicht lange nachdem Mom das Zimmer verlassen hatte, klopfte es leise an der Tür. Ich antwortete nicht. Ich hatte das Gefühl, auch nur den Mund zu öffnen würde mich zu viel Kraft kosten. Außerdem war es sinnlos, denn es kam am Ende sowieso jeder rein, ob ich das nun wollte oder nicht.
Bestimmt war es nur Panzella, und egal was weiter passierte, ich war entschlossen, dass er dieses Mal kein einziges Wort aus mir herauskriegen würde. Auch wenn er mich auf Knien anflehte. Oder mir mit lebenslänglich drohte. Ich war es so leid, immer wieder diesen Tag durchleben zu müssen. Ich wollte einfach nur für eine Weile meine Ruhe haben.
Es klopfte noch mal, dann schob sich die Tür leise auf. Ein Kopf spähte herein. Stacey.
Ich kann keinem sagen, wie erleichtert ich war, ihr Gesicht zu sehen. Ihr unversehrtes Gesicht. Sie lebte, und nicht nur das, sie war nicht gezeichnet. Keine Schusswunde, keine verletzte Haut. Gar nichts. Ich brach beinahe in Tränen aus, als ich sie dort stehen sah.
Andererseits kann man seelische Wunden nicht gerade am Gesicht der betroffenen Person erkennen, oder?
»Hey«, sagte sie, ohne zu lächeln. »Kann ich reinkommen?«
Ich war wahnsinnig froh zu sehen, dass sie lebte – und trotzdem wurde mir genau in dem Moment, als sie den Mund aufmachte und ich ihre Stimme hörte, mit der ich mindestens eine Million Mal gelacht hatte, plötzlich klar,dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich ihr sagen könnte.
Das hört sich vielleicht blöd an, aber ich glaube, ich habe mich geniert. Es war so ähnlich, wie wenn du als kleines Kind vor all deinen Freunden von deiner Mom oder deinem Dad zusammengebrüllt wirst und dich total gedemütigt fühlst. Es kommt dir vor, als hätten deine Freunde gerade was ganz Privates über dich mitgekriegt, das sich gar nicht verträgt mit der »Alles-im-Griff«-Persönlichkeit, die du der Welt gegenüber sonst zeigst. So war es jetzt mit Stacey, nur Lichtjahre schlimmer.
Es gab tonnenweise Sachen, die ich sagen wollte, ehrlich wahr. Ich wollte sie nach Mason und Duce fragen. Und nach der Schule. Ich wollte wissen, ob Christy Bruter überlebt hatte oder nicht, und was mit Ginny Baker war. Ich wollte von ihr wissen, ob sie etwas von Nicks Plan geahnt hatte. Ich wollte sie sagen hören, dass sie es auch total unvorbereitet erwischt hatte. Ich wollte von ihr hören, dass ich nicht die Einzige war, die Schuld auf sich geladen hatte, weil sie das Ganze nicht verhindert hatte. Weil sie so unglaublich schwer von Begriff und so blind gewesen war.
Aber es war total seltsam. Als sie hereinkam und sagte: »Du hast keine Antwort gegeben auf mein Klopfen, da hab ich gedacht, du würdest schlafen oder so«, fühlte sich auf einmal alles surreal an. Nicht nur der Amoklauf. Nicht nur die Fernsehbilder von Schülern, die blutverschmiert durch die Flügeltüren der Cafeteria in meiner Schule strömten. Nicht nur die Tatsache, dass Nick nicht mehr da war und Detective Panzella pausenlos neben mir am Bett saß und irgendwelche Phrasen über Recht und Ordnung von sich gab. Sondern einfach alles. Jede Einzelheit,bis hin zu Sachen, die in der ersten Klasse passiert waren – wie Stacey mir ihren losen Schneidezahn
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