Die Hassliste: Roman (German Edition)
Bein?«
Ich sah zu Mom hinüber, aber die blickte auf ihre Füße und tat so, als wären wir nicht mit ihr im gleichen Raum.
»Okay«, sagte ich und nahm mir noch ein Stück Speck.
»Gut, in Ordnung«, sagte er mit einem Lächeln im Gesicht, das dort festgewachsen schien. Es war ein nervöses Lächeln, fast als hätte er irgendwie Angst, aber nicht direkt vor mir. Es kam mir vor, als hätte er Angst vor dem Leben. Als könnte es ihn jeden Moment anspringen und beißen. »Wie sieht es im Moment mit deinem Schmerzlevel aus?«
Er griff hinter mich und zog das Klemmbrett mit meinen Patientenunterlagen heraus, bei denen natürlich auch die Schmerztabelle steckte. Ich hatte diese Frage an die hundert Mal beantwortet, seit ich hier war. Liegen deine Schmerzen bei zehn? Bei sieben? Oder bist du heute vielleicht auf 4,375?
»Zwei«, antwortete ich. »Warum? Darf ich raus?«
Er lachte in sich hinein und schob sich die Brille mit dem Zeigefinger zurück auf den Nasenrücken.
»Valerie, wir wollen, dass du in jeder Hinsicht heilst«, sagte er mit geduldiger Kindergärtnerinnenstimme. »Auch innerlich. Darum bin ich hier. Ich werde heute einige Tests mit dir machen, damit wir herausfinden, wie wir deine geistige Gesundheit am besten sicherstellen können. Drängt es dich, dir selbst Schaden zuzufügen?«
»Was?« Ich spähte über seine Schulter. »Mom?« Doch sie starrte weiter auf ihre Schuhe.
»Ich möchte wissen, ob du den Eindruck hast, dass du für dich selbst oder für andere heute eventuell eine Gefahr darstellst.«
»Was meinen Sie damit? Ob ich mich umbringen will?«
Er nickte und sein blödes Grinsen hing ihm im Gesicht fest wie Seepocken an einer Felswand. »Oder ob du dich schneiden oder dir selbst wehtun willst. Ob du gefährliche Gedanken hast.«
»Was? Nein. Warum sollte ich mich umbringen?«
Er lehnte sich ein Stück zurück und schlug ein Bein übers andere. »Valerie, ich habe in aller Ausführlichkeit mit deinen Eltern, mit der Polizei und mit den behandelnden Ärzten gesprochen. Wir haben uns in diesen Gesprächen eingehend mit deinen Selbstmordgedanken befasst, die dir offensichtlich schon seit geraumer Zeit zu schaffen machen. Und wir alle befürchten ernsthaft, diese Gedanken könnten zunehmen angesichts dessen, was sich unlängst ereignet hat.«
Nick war schon immer wie besessen gewesen vom Tod. Das war keine große Sache, wirklich nicht. Es gibt Leute, die spielen wie besessen Videospiele. Andere interessieren sich nur für Sport. Manche Typen sind total wild auf alles Militärische. Nick hatte es eben mit dem Tod. Vomallerersten Tag an, als er mir auf seinem Bett liegend erzählt hatte, Hamlet hätte Claudius gleich bei der erstbesten Gelegenheit umbringen sollen, hatte er über den Tod geredet.
Aber das waren alles nur Geschichten. Nick erzählte gerne Geschichten vom Tod, die er aus Büchern oder Filmen hatte. Das war einfach sein Ding. Und ich habe seine Sprache übernommen, seine Geschichten weitererzählt. Es war nichts weiter dabei. Ich habe nicht mal richtig gemerkt, dass ich auch damit anfing. Alles fühlte sich an wie erfunden, es war pure Fiktion. Shakespeare hat Geschichten über den Tod erzählt. Poe hat Geschichten über den Tod erzählt. Auch dieser dämliche Stephen King erzählt Geschichten über den Tod. Und das alles hat überhaupt keine Bedeutung.
Darum war es mir gar nicht aufgefallen, dass sich Nicks Reden über den Tod irgendwann steigerte und dass es persönlicher wurde. Ich hatte nicht gemerkt, dass seine Geschichten inzwischen von Selbstmord handelten. Von Mord. Und meine eigenen Geschichten taten das auch. Nur dass das für mich alles weiterhin nichts war als Fiktion.
Als ich die Mails durchblätterte, die mir Detective Panzella bei seinem ersten Besuch hier im Krankenhauszimmer dagelassen hatte, war ich entgeistert gewesen. Wie konnte es sein, dass ich das alles nicht gesehen hatte? Wieso hatte ich nicht gemerkt, was für eine verstörende Geschichte diese Mails erzählten, eine Geschichte, die jeden andern, der sie las, hätte aufschrecken lassen? Warum war mir nicht aufgefallen, dass sich Nicks Reden vom rein Fiktiven ins Reale verschoben hatte? Wieso warmir nicht klar gewesen, dass meine Antworten – die für mich selbst nur ein Spiel gewesen waren – für jeden Außenstehenden so klangen, als wäre ich auch besessen vom Tod?
Ich habe keine Ahnung, warum ich das alles nicht kapiert hatte. So sehr ich es mir im Nachhinein auch wünschen mochte, ich hatte
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