Die Hassliste: Roman (German Edition)
gerade gesagt hatte. Sie konnte es nicht fassen? Das konnte ich auch nicht. Vor allem konnte ich nicht fassen, dass meine ältesteund angeblich beste Freundin einfach annahm, dass alles, was sie über mich gehört hatte, der Wahrheit entsprach. Dass sie sich nicht mal die Mühe machte, mich zu fragen, ob wirklich passiert war, wovon alle behaupteten, es sei passiert. Dass die anpassungsfähige Stacey offenbar zu jemandem geworden war, der mir nicht mehr vertraute.
»Ich auch nicht. Manchmal kann ich’s immer noch nicht glauben«, sagte ich. »Aber Stacey, ich hab auf niemanden geschossen, das schwöre ich.«
»Aber du wolltest, dass Nick es für dich tut«, sagte sie. »Ich muss los. Jedenfalls bin ich froh, dass du okay bist.« Sie öffnete die Tür. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass sie dich in ihre Nähe lassen, aber falls du Christy Bruter mal auf dem Gang triffst, solltest du dich wohl bei ihr entschuldigen.« Sie war schon fast draußen, da hörte ich sie, kurz bevor die Tür wieder zuging, noch sagen: »Ich hab’s jedenfalls getan«, und musste Ewigkeiten lang herumgrübeln, wofür in aller Welt sich Stacey entschuldigt haben mochte.
Und als mir nach und nach dämmerte, dass sie sich wahrscheinlich schuldig fühlte, weil sie meine Freundin gewesen war, verschwand meine Traumwelt auf einen Schlag. Sie erlosch einfach, als hätte sie nie existiert.
Ich hatte gedacht, ich könnte nach Hause. Mom war ins Zimmer geschlüpft, während ich schlief, und hatte mir frische Kleider bereitgelegt, dann war sie wieder verschwunden. Ich setzte mich im Bett auf. Das Morgenlicht strömte durchs Fenster und schien aufs Fußende. Ich schob mir die Haare aus den Augen. Der Tag fühlte sich irgendwie anders an, als wäre heute etwas Neues möglich.
Ich hievte mich aus dem Bett, schnappte mir die Krücken, die die Nachtschwester an die Wand neben meinem Bett gelehnt hatte, und humpelte auf einem Bein bis zur Toilette – das konnte ich seit exakt einem Tag wieder allein. Mir war immer noch schummrig von den Schmerzmitteln, aber die Infusion war ich endlich los und der Verband an meinem Bein war zwar noch unförmig, aber nicht mehr so dick. Mein Bein pochte nur noch etwas, so ähnlich wie es sich anfühlt, wenn sich ein Splitter in die weiche Haut zwischen den Fingern eingegraben hat.
Ich brauchte ziemlich lange, um mich in der Gegendherumzuhieven und alles zu erledigen, was im Bad zu tun war. Als ich herauskam, saß Mom auf der Kante von meinem Bett. Ein kleiner Koffer stand neben ihr auf dem Boden.
»Was ist das?«, fragte ich und humpelte auf meinen Krücken zum Bett zurück. Ich nahm mein Oberteil und begann, mich aus dem Schlafanzug zu schälen.
»Ein paar Sachen, die du vielleicht brauchen wirst.«
Ich seufzte, zog das Oberteil über den Kopf und begann mich mit der Hose abzumühen.
»Du meinst also, ich darf heute immer noch nicht raus? Mir geht’s doch gut. Ich kann mich wieder bewegen. Ich kann doch nach Hause. Ich will nach Hause, Mom.«
»Komm, lass mich mal«, sagte Mom, beugte sich vor und half mir dabei, in meine Jeans reinzukommen. Sie machte den Knopf zu und zog auch den Reißverschluss hoch, was sich seltsam anfühlte, aber zugleich auch irgendwie behaglich.
Wacklig hüpfte ich zum Rollstuhl hinüber und ließ mich hineinfallen. Ich zog meine Haare unter dem Oberteil heraus und setzte mich zurecht. Dann rollte ich hinüber zum Nachttisch, auf dem eine Schwester mein Frühstückstablett abgestellt hatte. Ich roch gebratenen Speck und mein Magen begann zu knurren.
»Haben die denn irgendwas gesagt, wann sie mich entlassen? Morgen? Ich finde, morgen könnte ich doch echt nach Hause, Mom. Vielleicht kannst du mal mit ihnen reden.« Ich nahm die Haube vom Tablett. Mein Magen knurrte wieder. Ich konnte mir den Speck kaum schnell genug in den Mund schieben.
Genau in dem Moment, als Mom den Mund aufmachte,um etwas zu sagen, schwang die Tür auf und ein Typ in hellen Hosen und einem karierten Hemd kam rein. Über dem Hemd trug er lässig einen offenen weißen Kittel.
»Mrs Leftman«, sagte er betont herzlich. »Ich bin Dr. Dentley. Wir haben miteinander telefoniert.«
Ich blickte auf, mit gebratenem Speck im Mund.
»Und du musst Valerie sein«, sagte er. Seine Stimme klang nun abwägend und bedächtig. Er hielt mir seine Hand hin. Ich schluckte den Speck runter und schüttelte sie zögernd. »Dr. Dentley«, sagte er. »Ich bin der Psychiater hier im Krankenhaus. Wie geht es deinem
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