Die Hassliste: Roman (German Edition)
durcheinandergerannt.«
Detective Panzella spitzte die Lippen und schloss sein Notizbuch, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und fixierte einen Punkt an der Decke, als stünde dort etwas geschrieben. »Nach Augenzeugenberichten hast du dich gleich nach dem Schuss neben Christy hingekniet, dann bist du wieder aufgestanden und weggerannt. Angeblich hat es so ausgesehen, als hättest du dich vergewissern wollen, dass der Schuss sie erwischt hat, und als wärst du erst danach weitergelaufen. Du wolltest sie offenbar sterben lassen. Ist das richtig?«
Ich presste die Augen so fest zusammen, wie ich nur konnte, denn ich wollte auf gar keinen Fall vor mir sehen, wie Christy Bruters Bauch geblutet und wie ich meine Hände gegen die Wunde gedrückt hatte. Wollte die Panik nicht noch einmal spüren, die mir an diesem Tag in der Kehle hochgestiegen war. Wollte den Gestank von Schießpulver in der Luft nicht riechen und die Schreie nicht hören. Noch mehr Tränen liefen mir das Gesicht herunter. »Nein, ist es nicht.«
»Du bist also nicht weggerannt? Auf den Videobändern sieht es aber so aus.«
»Nein – ich meine, ja, ich hab sie liegen lassen, aber ich bin nicht weggerannt. Jedenfalls nicht, um sie sterben zulassen. Ehrlich. Ich bin von ihr weg, weil ich unbedingt Nick finden musste. Ich musste ihn doch dazu bringen, dass er aufhört.«
Er nickte und blätterte wieder in seinem Buch. »Und was hast du noch mal zu deiner Freundin Stacey Brinks gesagt, als du an diesem Morgen aus dem Bus gestiegen bist?«
Schmerz hämmerte in meinem Bein und auch in meinem Kopf. Meine Kehle war trocken vom vielen Reden. Und ich bekam langsam Angst. Ich wusste nicht mehr, was ich zu Stacey gesagt hatte. Inzwischen war ich an dem Punkt, wo ich mich an fast gar nichts mehr erinnerte. Und ich hatte keine Ahnung, ob ich dem, woran ich mich doch noch erinnerte, trauen konnte.
»Na?«, sagte er. »Hast du irgendwas zu Stacey Brinks gesagt, nachdem du aus dem Bus gestiegen bist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nach Staceys Angaben hast du etwas in der Art gesagt wie: ›Ich könnte sie umbringen. Das wird sie noch bereuen.‹ Hast du das gesagt?«
Genau in diesem Moment kreuzte eine Schwester auf. »Es tut mir leid, Sir, aber ich muss den Verband vor Schichtende noch wechseln«, sagte sie.
»Natürlich«, antwortete Detective Panzella. Er stand auf und bahnte sich einen Weg zwischen den Maschinen und Drähten hindurch. »Wir reden dann später weiter«, sagte er zu mir.
Ich wünschte mir sehnlichst, aus
später
würde
niemals
werden. Hoffte, dass zwischen jetzt und
später
ein Wunder geschehen würde und er keine Antworten mehr von mir erwartete.
Ich saß in einem Rollstuhl neben meinem Bett. Zum ersten Mal seit dem Amoklauf trug ich Jeans und ein T-Shirt . Mom hatte sie mir von zu Hause mitgebracht. Sie waren alt, ich hatte sie in der neunten Klasse gekriegt oder so, und sie sahen total daneben aus. Aber es fühlte sich gut an, endlich wieder richtige Klamotten zu tragen, auch wenn es bedeutete, dass ich mich kaum bewegen konnte, weil sonst der harte Jeansstoff an meiner Wunde scheuerte und mich aufstöhnen und die Zähne zusammenbeißen ließ. Es war auch gut, wieder einmal aufrecht zu sitzen. Na ja, immerhin einigermaßen gut. Es gab ja trotzdem nicht viel anderes zu tun außer herumzusitzen und in den Fernseher zu starren.
Tagsüber, wenn Mom und Detective Panzella da waren und immer wieder Krankenschwestern hereinkamen, lief meistens irgendeine Kochsendung oder ein Programm, in dem garantiert nicht über den Amoklauf berichtet wurde. Aber abends konnte ich nicht anders, als die Nachrichten anzuschauen. Ich musste einfach wissen, was los war. Mitklopfendem Herzen versuchte ich, in Erfahrung zu bringen, wer überlebt hatte, wer gestorben war und wie es mit der Schule jetzt weiterging. In den Werbepausen driftete ich weg. Ich dachte an meine Freunde, fragte mich, ob sie es geschafft hatten rauszukommen oder nicht. Und wie es ihnen gehen mochte. Weinten sie? Feierten sie? Ging das Leben für sie einfach weiter? Und dann wanderten meine Gedanken zu den Opfern und ich musste meine Faust in den Oberschenkel graben und das Programm wechseln, um wieder an etwas anderes denken zu können.
Den Morgen über hatte ich die Fragen von Detective Panzella beantwortet, was absolut kein Vergnügen gewesen war. Ich bemühte mich, nicht darüber nachzudenken, was er da tat, denn ich war mir ziemlich sicher, dass es so oder so nicht gut für
Weitere Kostenlose Bücher