Die Hassliste: Roman (German Edition)
nicht richtig hinter mir zugemacht, da ließ ich ihn schon auf das Tischchen zwischen uns fallen.
»Macht ihn das zu einem Helden, Dr. Hieler?«, fragte ich.
Dr. Hieler überflog die Seite, während er es sich in seinem Sessel bequem machte. »Wen?«
»Nick. Wenn alle, die überlebt haben, jetzt stärker sind als vorher und total erfüllt vom Frieden, wie es in dem Artikel heißt, ist er dann nicht ein Held? So was wie ein John Lennon des 21. Jahrhunderts? Ein Friedensstifter mit einer Waffe?«
»Ich verstehe, dass es leichter für dich wäre, wenn du ihn für einen Helden halten könntest. Aber er hat nun mal etliche Leute umgebracht, Valerie. Es gibt wahrscheinlich nicht gerade viele, die bereit sind, ihn als einen Helden anzusehen.«
»Aber das kommt mir so unfair vor – in der Schule machen sie einfach weiter, sie akzeptieren sich endlich gegenseitig und sind nicht mehr so gemein, aber Nick ist weg. Klar, ich weiß ja, dass er selbst schuld daran ist, abertrotzdem. Warum haben sie das nicht schon vorher kapiert? Warum musste erst das hier passieren? Das ist einfach nicht fair.«
»Das Leben ist nicht fair. Fairness ist was für den Sportplatz – und meistens findet sie nicht mal dort statt.«
»Das ist ein blöder Spruch.«
»Meine Kinder können ihn auch nicht ausstehen.«
Schmollend starrte ich auf den Artikel hinunter, bis mir die einzelnen Wörter vor den Augen verschwammen. »Wahrscheinlich halten Sie mich für bescheuert, weil ich irgendwie ein bisschen stolz auf ihn bin.«
»Nein, aber ich glaube auch nicht, dass du wirklich stolz bist. Ich glaube, du bist stinksauer. Ich glaube, du wolltest, deine Schule hätte ihre Einstellung früher geändert, dann wäre nämlich nichts von alldem passiert. Und es kommt mir so vor, als würdest du nicht wirklich glauben, dass in diesem Artikel die Wahrheit gesagt wird.«
Und zum ersten Mal – und ganz sicher nicht zum letzten – ließ ich Dr. Hieler gegenüber einfach alles heraus. Von dem Tag, an dem wir auf Nicks ungemachtem Bett über
Hamlet
gesprochen hatten, über die Tatsache, dass ich mir gewünscht hatte, Christy Bruter würde mal so richtig eins reinkriegen für die Sache mit meinem MP 3-Player , bis hin zu meinen Schuldgefühlen. Ich erzählte ihm alles, was ich dem Typ von der Polizei an meinem Krankenhausbett nicht hatte sagen können. Was ich Stacey nicht sagen konnte. Und Mom auch nicht.
Vielleicht hatte es damit zu tun, wie Dr. Hieler mich ansah – als wäre er der einzige Mensch auf der Welt, der verstehen konnte, wie alles völlig außer Kontrolle geratenwar. Vielleicht war ich inzwischen einfach bereit. Vielleicht lag es an dem Zeitungsartikel. Vielleicht war es aber auch so was wie eine Explosion meines Körpers – vielleicht musste ich einfach Druck ablassen, bevor es mich zerriss.
Ich war wie ein Vulkan, aus dem Fragen, Reue und Wut ausbrachen, und Dr. Hieler stand in diesem Feuersturm wie ein Fels. Er schaute mich aufmerksam an und sprach leise und ausgeglichen mit mir. Ab und zu nickte er düster.
»Meinen Sie, ich hätte es getan?«, rief ich irgendwann aus. »Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, hätte ich dann auf Christy Bruter geschossen? Denn als Nick gesagt hat: ›Lass uns das hier durchziehen‹, hab ich gedacht, er will sie, keine Ahnung, mit Worten fertigmachen, sie richtig verprügeln oder so, und da hab ich mich total gut gefühlt. Irgendwie erleichtert. Ich wollte, dass er das für mich erledigt.«
»Das ist normal, findest du nicht? Dass du dich gefreut hast, weil Nick sich für dich einsetzen will, heißt doch nicht, dass du auch eine Knarre gezückt und auf sie geschossen hättest?«
»Ich war so was von wütend. Sie hat meinen MP 3-Player kaputt gemacht. Mann, ich war echt stinkwütend.«
»Auch normal. Ich wäre an deiner Stelle genauso wütend gewesen. Wütend sein ist nicht dasselbe wie schuldig.«
»Es hat mir so gutgetan, dass er auf meiner Seite ist, echt.«
Er nickte.
»Ich hatte Angst, er will mit mir Schluss machen, darumhat es sich echt gut angefühlt, dass er sich so für mich einsetzt. Es hat mir Halt gegeben. Ich hab geglaubt, mit uns würde alles gut. An die Hassliste hab ich überhaupt nicht gedacht.«
Wieder nickte er und seine Augen zogen sich immer mehr zusammen, je mehr ich mich aufregte.
Seine Worte schwebten sanft in der Luft zu mir herüber und hüllten mich ein. »Valerie, du hast nicht auf sie geschossen und du bist auch nicht schuld an diesem Schuss. Es war
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