Die Hassliste: Roman (German Edition)
dankbar, dass Lin noch am Leben ist, aber die Kugel hat ihren Arm für alle Zeiten ruiniert. Sie war eine exzellente Geigerin und hat auf Landesebene gespielt. Das ist jetzt vorbei. Ihre Finger funktionieren nicht mehr richtig. Sie kann nicht mehr spielen.«
Lin Yong war in den Unterarm getroffen worden, der Aufprall der Kugel beschädigte ihr Handgelenk schwer und hatte erhebliche Nervenschädigungen in ihrem Arm zur Folge. Auch nach vier Operationen kann sie Mittelfinger und Daumen nur eingeschränkt benutzen.
»Und es ist der rechte Arm«, sagt Yong. »Darum fällt mir auch das Schreiben schwer. Ich versuche jetzt, mit links schreiben zu lernen. Aber meine Freundin Abby ist tot, also will ich über meinen Arm nicht zu viel jammern. Er hätte mich schließlich auch umbringen können.«
***
Nach dem Schülerratstreffen zwang Mom Dr. Hielers Sekretärin, auf der Stelle einen Termin für uns einzuschieben.
»Deine Mutter sagt, du wärst außer dir gewesen, als du aus dem Treffen kamst«, meinte Dr. Hieler, schon bevor ich mich gesetzt hatte. Ich bildete mir ein, einen Hauch von Verärgerung in seiner Stimme zu hören, und fragte mich, ob er wegen mir wohl erst später nach Hause kommen würde. Ob seine Frau das Essen im Herd warm hielt und ob seine Kinder vorm Kamin Hausaufgaben machten und sehnsüchtig auf ihren Daddy warteten, der mit ihnen Cowboy und Indianer spielen würde, sobald er daheim war. Genau so stellte ich mir Dr. Hielers Privatleben vor – eine perfekte Fünfziger-Jahre-Idylle wie aus dem Fernsehen, mit einer geduldigen und liebevollen Familie, in der es nie irgendwelche Probleme gab.
Ich nickte. »Ja, schon, aber es hat kein großes Drama gegeben oder so.«
»Wirklich? Deine Mutter sagt, jemand wäre dir hinterhergerannt. Ist irgendwas passiert?«
Ich überlegte. Sollte ich nicken und ihm erzählen, was passiert war – dass ich Nick öffentlich fallen gelassen hatte, dass es den andern am Ende doch noch gelungen war, mich davon zu überzeugen, dass Nick schlecht war? Sollte ich ihm sagen, dass ich mich irrsinnig schuldigfühlte deshalb? Dass ich mich dafür hasste, mich dem Druck derer gebeugt zu haben, die an der Schule den Ton angaben? Dass ich mich entsetzlich schämte?
»Ach«, sagte ich so lässig, wie ich es hinbekam. »Mir ist mein Taschenrechner runtergefallen und ich hab’s nicht gemerkt. Sie wollte ihn mir zurückgeben. Ich krieg ihn dann morgen in der ersten Stunde. Nicht so wichtig. Mom steigert sich da in was rein.«
Er legt den Kopf schief, woran ich merkte, dass er mir kein Wort glaubte. »Dein Taschenrechner?«
Ich nickte.
»Worüber hast du dann geweint? Über den Taschenrechner?«
Wieder nickte ich und blickte zu Boden. Ich kaute auf meiner Unterlippe, damit sie nicht zitterte.
»Muss ein guter Taschenrechner sein«, überlegte er. »Ein wirklich besonderer Taschenrechner.« Als ich immer noch nichts sagte, redete er langsam, sanft und in wohlgesetzten Worten weiter: »Ich wette, es geht dir total schlecht, weil du so einen guten Taschenrechner einfach hast runterfallen lassen. Bestimmt denkst du, du hättest besser auf diesen Taschenrechner achtgeben müssen.«
Ich blickte auf und sah ihn an. Sein Gesicht gab nichts preis. »Ja, so ähnlich war es«, sagte ich.
Er nickte und bewegte sich in seinem Sessel hin und her. »Du bist kein schlechter Mensch, Valerie, wenn du ab und zu deinen Taschenrechner vergisst. Und falls du ihn irgendwann gar nicht mehr finden solltest und einen neuen Taschenrechner brauchst … na ja, es gibt eine Menge guter Taschenrechner in der Welt.«
Ich kaute noch fester auf meiner Lippe herum und nickte.
Ein paar Tage später stand Mrs Tate gerade am Kopierer im Sekretariat, als ich hereinkam, um mich wegen meiner Verspätung zu melden. Ich versuchte zu entwischen, bevor sie mich bemerkte, aber die Sekretärin redet immer total laut, und als sie mehr oder weniger brüllte: »Hast du denn ein Arztattest, Valerie?«, drehte sich Mrs Tate um und sah mich.
Sie gab mir zu verstehen, dass ich mitkommen sollte, und wir gingen in ihr Büro.
Sie schloss hinter uns die Tür. Ihr Büro sah aus, als hätte sie es gerade entrümpelt. Auf dem Boden türmten sich zwar immer noch die Bücherstapel, aber sie waren jetzt alle in eine Ecke geschoben. Auf ihrem Schreibtisch lagen keine schmuddeligen Essenstüten mehr herum und der windschiefe Aktenschrank war ersetzt worden durch einen neuen, der schwarz glänzte. Alle ihre Fotos hatte sie auf
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