Die Hassliste: Roman (German Edition)
»Wenn ihr die Namen der Opfer draufschreiben wollt, sollte er auch dabei sein.«
Josh schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Ich finde das nicht richtig.«
»Ich auch nicht«, hörte ich mich sagen, bevor mir klar wurde, dass ich überhaupt den Mund aufgemacht hatte. »Das wäre nicht fair den andern gegenüber.« Beinahe hätte ich laut aufgestöhnt, als ich begriff, was ich da gerade tat. Nick war alles für mich gewesen. Ich glaubte immer noch nicht, dass er ein Monster war, auch nach allem, was er in der Schule angerichtet hatte. Und ich fühlte mich nicht schuldlos, was meine eigene Rolle in dem Ganzen betraf. Trotzdem hatte ich ihn gerade den andern zum Fraß vorgeworfen. Und warum? Damit der Schülerrat mit mir zufrieden war? Damit ich klarkam mit Leuten,die vor ein paar Monaten noch laut gelacht hatten, wenn Chris Summers Nick lächerlich gemacht oder Christy Bruter mich Todesschwester genannt hatte? Um mich Jessica Campbell gegenüber wichtigzutun, obwohl ich nicht mal genau wusste, ob sie mich hasste oder sich irgendwie geändert hatte? Oder glaubte ich etwa selbst, was ich eben gesagt hatte? War da plötzlich etwas hochgekommen, das mir bisher noch nicht bewusst gewesen war? Hatte ich eine verborgene Angst laut ausgesprochen – dass Nick und ich womöglich gar keine Opfer gewesen waren, sondern die schlimmsten Täter von allen?
In meinem Innern gab es einen Ruck, so jäh, dass ich ihn fast körperlich spürte. Ich konnte beinah zusehen, wie ich mich in zwei verschiedene Personen aufspaltete: die Valerie vor dem Amoklauf und die Valerie jetzt. Und die beiden passten einfach nicht zusammen.
Auf einmal war es mir unmöglich, hier sitzen zu bleiben und gemeinsame Sache mit den andern zu machen, statt auf Nicks Seite zu sein. »Ich muss los«, sagte ich. »Äh, meine Mutter wartet auf mich.« Ich schnappte mir meine Bücher und stürzte zur Tür hinaus. Auf einmal war ich unendlich froh darüber, dass ich Mom vorhin angerufen und ihr gesagt hatte, sie sollte zur gleichen Zeit wie immer kommen und auf mich warten, nur für den Fall, dass ich doch zu viel Schiss bekam, um zu dem Treffen zu gehen. Moms Misstrauen mir gegenüber kam mir jetzt entgegen – ich wusste genau, sie würde da sein. Die Fenster der Schule fest im Blick vor lauter Angst, es könnte etwas passieren, würde sie draußen im Auto sitzen und beim Warten wahrscheinlich an den Fingernägeln kauen.
Ich wagte es nicht nachzudenken, bis ich sicher vor der Schule und in Moms Auto angekommen war. Wagte nicht, auch nur für einen Moment innezuhalten, bevor ich in den Sitz sank und alle Türen zwischen mir und den Leuten vom Schülerrat zugesperrt waren.
»Fahr«, sagte ich. »Fahr einfach nach Hause.«
»Was ist los?«, fragte Mom. »Was ist denn passiert, Valerie? Was war auf dem Treffen?«
»Das Treffen ist vorbei«, sagte ich und schloss die Augen. »Fahr einfach.«
»Aber warum rennt dieses Mädchen da aus der Tür? O Gott, Valerie, warum rennt sie?«
Ich machte die Augen wieder auf und linste aus dem Beifahrerfenster. Jessica näherte sich im Laufschritt dem Wagen.
»Fahr endlich los!«, rief ich. »Bitte, Mom!«
Da trat Mom aufs Gas, wohl ein bisschen zu viel, denn wir schossen mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Im Seitenspiegel sah ich Jessica immer kleiner und kleiner werden. Sie stand am Bordstein, genau an der Stelle, wo ich eben ins Auto gestiegen war, und sah uns auch immer kleiner und kleiner werden.
»Mein Gott, Valerie, was ist denn passiert? Was war da bloß los? Gott, sag endlich, dass nichts passiert ist. Valerie, das halt ich nicht aus, wenn noch was passiert ist.«
Ich ignorierte sie. Erst als mich etwas im Gesicht kitzelte und ich beim Wegreiben merkte, dass es eine Träne war, die mir die Wange hinunterlief, begriff ich, dass mein Schweigen einen anderen Grund hatte. Ich ignorierte sie nicht wirklich, ich weinte nur zu sehr, um ihr zu antworten.
Einen Augenblick später bogen wir in die Zufahrt ein. Als Mom vor dem sich öffnenden Garagentor kurz anhielt, rannte ich los. Ich bückte mich unter dem Tor durch und lief ins Haus. Ich war auf halbem Weg die Treppen hoch, als ich sie unten in der Küche ins Telefon schnauzen hörte: »Dr. Hieler bitte. Ja, es
ist
dringend, verdammt noch mal.«
[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
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