Die Hassliste: Roman (German Edition)
aufgebrummt. Der meint wohl, er kann mich zwingen, indem er mich andauernd nachsitzen lässt. Aber das zieht bei mir nicht. Ich will einfach nicht da drin essen.«
»Warum nicht?«
»Mit wem soll ich denn essen? Ich kann schließlich nicht einfach zu irgendwem hingehen und fragen: ›Hallo, kann ich mich hier hinsetzen?‹, und dann sagen alle gleich: ›Na klar, gern!‹. Nicht mal meine alten Freunde lassen mich bei sich am Tisch sitzen.«
»Was ist mit diesem einen Mädchen? Der vom Schülerrat.«
»Jessicas Freunde sind nicht meine Freunde«, sagte ich. »Das waren sie noch nie. Darum haben Nick und ich sie ja auch auf die Hass-« Ich unterbrach mich abrupt. Dass ich die Hassliste beinahe ganz lässig nebenbei erwähnt hätte, überraschte mich. Ich versuchte, darüber hinwegzugehen und das Thema zu wechseln. »Angerson steht ja nur so auf Schulsolidarität, damit er im Fernsehen gut rüberkommt. Das ist sein Problem und nicht meins.«
»Klingt aber, als wär’s nicht nur sein Problem. Strafunterricht am Samstag ist keine besonders tolle Art, das Wochenende zu verbringen, oder?« Ich hätte schwören können, dass er schon wieder einen Blick Richtung Uhr warf.
»Kann sein. Mir egal.«
»Ich glaube, du willst nur nicht zugeben, wie wenig egal es dir ist. Was würde passieren, wenn du es irgendwann einfach mal ausprobierst?«
Darauf hatte ich keine Antwort.
Als ich nach der Stunde aus der Praxis kam, war Mom nicht da. Sie hatte einen gelben Zettel an Dr. Hielers Tür geklebt, auf dem stand, sie müsste etwas erledigen und wäre gleich wieder da, ich sollte auf dem Parkplatz warten. Ich hatte den Zettel vor Dr. Hieler entdeckt, ihn abgemacht und in meine Tasche gestopft. Wenn er ihn sah,würde er sich bestimmt verpflichtet fühlen, noch länger zu bleiben, und ich hatte sowieso schon ein schlechtes Gewissen.
Außerdem gab es nichts mehr zum Reden.
Ich verließ das Gebäude und stand einen Augenblick lang draußen vor der Tür, unschlüssig, was ich tun sollte. Ich musste mich dünn machen, damit Dr. Hieler mich nicht sah, wenn er rauskam. Ich überlegte kurz, mich in einer Reihe von Büschen zu verkriechen, aber ich wusste nicht, ob mein Bein das mitmachen würde. Außerdem krabbelte da irgendein Tier herum, ich hörte jedenfalls etwas im Gebüsch rascheln und sah, wie sich die Äste bewegten.
Also stopfte ich die Hände in die Hosentaschen, schlenderte über den Parkplatz und kickte dabei ein paar Kieselsteine herum. Bald war ich vorne am Gehweg. Ich blieb stehen und sah mich um. Entweder musste ich in die Büsche oder zur Einkaufspassage auf der andern Seite der befahrenen Straße. Sonst würde mich Dr. Hieler entdecken und ich musste wieder rein zu ihm und weiterreden, worauf ich überhaupt keine Lust hatte. Also nahm ich die Hände aus den Taschen und wartete am Straßenrand auf eine Lücke zwischen den vorbeifahrenden Autos. Vielleicht würde ich Moms Auto auf dem Parkplatz des Supermarkts gegenüber entdecken. Dann kamen einen Moment lang keine Autos und ich flitzte – oder besser gesagt humpelte – über die Straße.
Moms Auto stand nicht auf dem Supermarktparkplatz; ich hatte zweimal alles abgesucht. Sie war auch noch nicht zurück auf dem Parkplatz bei Dr. Hieler. Das konnte ich von hier aus erkennen. Und ich bekam Durst.
Also stiefelte ich in den Supermarkt und streunte herum, bis ich einen Trinkbrunnen fand. Eine Weile lang hing ich bei den Zeitschriften herum und blätterte verschiedene Magazine durch. Dann lief ich am Süßigkeitenregal vorbei und wünschte mir, ich hätte Geld für eine ordentliche Dosis Schokolade dabei. Aber ziemlich bald wurde mir langweilig.
Draußen stellte ich mich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um zum Parkplatz von Dr. Hieler rübergucken zu können. Moms Auto war immer noch nicht da, auch das von Dr. Hieler war inzwischen weg. Ich seufzte und ließ mich auf dem Gehweg nieder, wo ich eine Zeit lang mit dem Rücken an eine Schaufensterscheibe vom Supermarkt gelehnt dahockte, bis der Chef des Ladens kam und mich verscheuchte – seine Kunden würden es nicht schätzen, meinte er, wenn Obdachlose hier herumlungerten. Es würde sie nervös machen. »Das ist hier schließlich nicht die Bahnhofsmission, Mädel«, ließ er mich wissen.
Also lief ich auf der Suche nach einem guten Platz zum Sitzen ein paar Eingänge weiter.
Der Handyladen war knallvoll, genauso der Friseur, bei dem Mom mir immer die Haare schneiden ließ, als ich noch
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