Die Hassliste: Roman (German Edition)
hüpfen. »Im Ernst, mach dir keine Sorgen wegen Meghan. Die kriegt schon noch die Kurve. Wir brauchen dich.
Ich
brauch dich. Du bist schlau und du bist auch, na ja, kreativ. Das brauchen wir. Bitte.«
Am anderen Ende des Korridors öffnete sich eine Tür und Meghan kam auf uns zu. Jessica nahm ihren Rucksack und ihre Jacke und zuckte mit den Achseln. »Du hast auf niemanden geschossen«, sagte sie. »Die haben keinen Grund, dich zu hassen. Das sage ich ihnen andauernd.« Sie erhob sich und hievte sich den Rucksack auf die Schulter. »Also dann bis morgen?«
»Okay«, sagte ich. Sie begann, Meghan entgegenzugehen.
Plötzlich blitzte etwas in mir auf. Was hatte Detective Panzella über das Mädchen gesagt, das mich entlastet hatte?
Blond, groß. In der gleichen Klassenstufe wie du. Dauernd hat sie gesagt: »Valerie hat auf niemanden geschossen.«
»Jessica?«, rief ich. Sie drehte sich um. »Mhm, danke.«
»Alles okay«, sagte sie. »Komm einfach, ja?«
Ein paar Minuten später hielt Mom hupend vor der Schule. Ich humpelte nach draußen zum Auto und schob mich hinein. Mom saß mit finsterem Blick hinterm Steuer.
»Ich kann’s nicht fassen, dass du den Bus verpasst hast«, sagte sie. Diese Stimme kannte ich – ihre ärgerliche und frustrierte Stimme. Die Stimme, die sie oft hatte, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich hab einfach jemanden gebraucht, der mir bei dieser einen Aufgabe hilft.«
»Warum hast du Dad nicht gebeten, dass er dich fährt?«
Die Frage erwischte mich wie ein ausgestreckter Finger, der einem in die Brust sticht. Ich merkte, wie mein Herz schneller schlug. Spürte, wie es in meinem Magen rumorte, als ich kurz den Gedanken erwog, ihr die Wahrheit zu sagen. Hörte, wie mein vernünftiger Anteil mir ins Ohr schrie:
Sie muss es wissen! Sie hat das Recht, Bescheid zu wissen!
»Dad hatte einen Klienten da«, log ich. »Auf ihn hätte ich genauso lange warten müssen wie auf dich.«
Wahrscheinlich hätte ich mich schuldig fühlen müssen, weil ich Mom verschwieg, was ich wusste. Aber andererseits hatte auch Dad schließlich auf niemanden geschossen.
Am nächsten Samstag bettelte ich darum, dass Mom mich nach der Sitzung bei Dr. Hieler in Beas Studio gehen ließ.
»Ich weiß nicht, Valerie«, sagte Mom mit gerunzelter Stirn. »Kunststunden? Ich hab noch nie was von dieser Frau gehört. Ich wusste nicht mal, dass es da ein Studio gibt. Bist du sicher, dass du dort gut aufgehoben bist und nichts passiert?«
Ich verdrehte die Augen. Mom hatte schon seit Tagen schlechte Laune. Es kam mir fast so vor, als würde sie immer misstrauischer mir gegenüber, je mehr ich versuchte, ein normales Leben zu führen. »Ja, klar. Bea ist eine Künstlerin, Mom, weiter nichts. Jetzt komm schon, kannst du mich nicht diese eine Sache einfach mal machen lassen? Du könntest doch in der Zeit nebenan einkaufen gehen.«
»Ich weiß nicht.«
»Bitte! Mom, jetzt komm, du sagst doch immer, ich soll was Normales machen. Kunststunden sind was Normales.«
Sie seufzte. »Na gut, aber ich komm mit dir rein. Ich will mir diesen Laden erst mal genauer angucken. Als ich dich zuletzt habe tun lassen, was du wolltest, hast du dich mit Nick Levil eingelassen, und du weißt ja, wohin uns das gebracht hat.«
»Wie könnte ich das vergessen, du sagst es mir ja jeden Tag«, brummelte ich in mich hinein und verdrehte die Augen. Doch zugleich drückte ich meinen Daumen in die Delle in meinem Oberschenkel, denn wenn ich jetzt pampig würde, dürfte ich wahrscheinlich doch nicht zu Bea.
Zusammen betraten wir das Studio. Als uns die dumpfe, schwere Luft umfing, merkte ich, wie Mom zögerte.
»Was ist das hier?«, fragte sie flüsternd.
»Schhh«, zischte ich, obwohl ich nicht recht wusste, warum ich wollte, dass sie schwieg. Vielleicht hatte ich Angst, Bea könnte sie hören und würde mir am Ende doch nicht erlauben, bei ihr Unterricht zu nehmen. Wer weiß, womöglich verdarb Moms negative Ausstrahlung dieses inspirierende purpurne Morgenlicht?
Ich lief den Gang entlang nach hinten, von wo aus ein musikalisches Klingeln – Glocken, die irgendeinen Rhythmus schlugen – und ein leises Murmeln von Stimmen erklang. Ich sah die Rücken von Leuten, die auf Hockern vor ihren Leinwänden saßen. Auf der einen Seite war eine ältere Frau, die Papier zu komplizierten Formen und Tiergestalten faltete, und unter einem der niedrigen Tische entdeckte ich einen kleinen Jungen, der mit
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