Die Hassliste: Roman (German Edition)
einmal Chris Summers mit seiner Truppe an unserem Tisch vorbei, und wie so oft benahmen sie sich, als würde ihnen persönlich die ganze Cafeteria gehören.
»He, du Vollidiot«, sagte Chris. »Heb das hier mal für mich auf.« Er holte einen Klumpen Kaugummi aus dem Mund und ließ ihn in Nicks Kartoffelbrei fallen. Seine Kumpel brachen in Gelächter aus und klopften sich gegenseitig auf die Schultern.
»O Mann, ist das widerlich …«
»Hey, echt super, Mann.«
»Viel Spaß noch mit deinen Kartoffeln, du Asi.« Dannschlenderten sie ausgelassen zu ihrem Tisch. Ich sah, wie die Wut in Nick hochkochte, seine Augen wurden dunkel und ausdruckslos wie schwarze Löcher und sein Kiefer verkrampfte sich. Er reagierte ganz anders als an dem Kinoabend. Damals hatte er traurig ausgesehen, völlig geschlagen. Jetzt wirkte er stinkwütend. Er stemmte sich vom Tisch hoch.
»Lass doch«, sagte ich und legte ihm meine Hand auf die Schulter. Nick hatte in diesem Monat schon zweimal richtig Ärger gekriegt, weil er sich geprügelt hatte, und Angerson hatte gedroht, ihn beim nächsten Mal für eine Weile vom Unterricht auszuschließen. »Die verdienen’s nicht, dass du Zeit auf sie verschwendest. Hier, nimm einfach meinen.« Ich schob ihm mein Tablett hin. »Ich mag sowieso keinen Kartoffelbrei.«
Er erstarrte, seine Nasenflügel bebten, die Hände hatte er fest gegen den Tisch gepresst. Dann atmete er ein paarmal tief durch und ließ sich zurück auf seinen Stuhl fallen. »Nein«, sagte er sanft und schob das Tablett wieder zurück in meine Richtung. »Ich hab keinen Hunger.«
Schweigend aßen wir weiter, während ich den Tisch von Chris Summers hinter uns mit vernichtenden Blicken bedachte. Ich merkte mir genau, wer alles an dem Tisch saß – unter anderem Meghan Norris – und wie sie Chris mehr oder weniger anbeteten, als wäre er ein Gott. Und als ich abends nach Hause kam, öffnete ich das Notizbuch und schrieb jeden einzelnen Namen auf.
Damals fand ich das total richtig. Ich habe sie alle so sehr gehasst für das, was sie Nick antaten, was sie mir antaten, was sie uns beiden antaten. Aber jetzt, hier im Gang vor Mrs Stones Zimmer, sah ich es anders. Jetzt, hier imGang vor Mrs Stones Zimmer, war Meghan nicht mehr so fies. Sie war einfach jemand, der verwirrt war, jemand, der versuchte, alles irgendwie richtig zu machen. Genau wie ich.
»Es hatte nichts mit dir zu tun«, erklärte ich Meghan ehrlich. »Es ging um Chris. Du hast mittags an seinem Tisch gesessen, als er …« Ich verstummte, denn mir wurde plötzlich klar: Egal, wie wütend Nick an diesem Tag gewesen war oder wie gemein Chris sich verhalten hatte – angesichts dessen, was passiert war, würde das gar nichts erklären. Ich verstand es ja selbst kaum mehr. »Es war blöd. Nein, es war falsch.«
Zum Glück streckte Jessica in dem Moment den Kopf aus der Tür und sah uns durchdringend an.
»Ah, hallo«, sagte sie. »Ich hab doch gedacht, dass ich Stimmen höre. Jetzt kommt endlich, wir wollen anfangen.«
Sie verschwand wieder nach drinnen. Meghan und ich standen noch einen Augenblick betreten draußen im Gang herum.
»Tja«, sagte sie schließlich. »Wahrscheinlich ist das jetzt sowieso alles egal, oder?« Sie lächelte – ein etwas gezwungenes Lächeln, aber nicht falsch. Das immerhin wusste ich zu schätzen.
»Kann schon sein«, sagte ich.
»Komm. Wenn wir nicht reingehen, kriegt Jessica einen Anfall.«
Wir betraten Mrs Stones Zimmer und ich hatte zum ersten Mal nicht das Bedürfnis, gleich wieder abzuhauen.
[Aus der Garvin County Sun-Tribune, 3. Mai 2008, von Angela Dash]
Nick Levil, 17 – Zwar steht durch die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen eindeutig fest, dass Nick Levil die Schüsse abgefeuert hat, doch das Motiv seiner Tat liegt immer noch im Dunkeln. »Er hielt sich zwar eher am Rand, aber er war trotzdem kein Einzelgänger, finde ich«, berichtete seine Klassenkameradin Stacey Banks der Presse. »Er hat eine feste Freundin gehabt und war auch sonst mit vielen befreundet. Manchmal hat er über Selbstmord geredet – ziemlich oft sogar –, aber dass er andere Leute umbringen wollte, hat er nie erwähnt. Zumindest uns gegenüber nicht. Kann sein, dass Valerie etwas davon wusste, aber wir nicht.«
Anhand der Videobänder konnte die Polizei jeden Schritt Levils am Morgen des 2. Mai nachverfolgen, woraus sich ein genaues Bild dessen ergibt, was an diesem Tag in der Schule passiert ist. Nachdem er in der
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