Die Heidehexe - Historischer Roman
Halinas schneidende Stimme riss sie unsanft in die Wirklichkeit zurück. „Mach die Augen endlich auf, du Schlafmütze. Wir stehen uns zu deiner Begrüßung die Beine in den Bauch. Meinst du, wir wollen uns alle den Tod holen, bei dieser Kälte?“
Isabella schreckte hoch, schaute direkt in Halinas wütendes Gesicht. „Ach Tantchen, wie lieblich dein Schimpfen klingt. Ich habe es vermisst“, jubelte die Nichte, überhäufte die Furie mit Küssen, sprang mit einem Satz aus dem Gefährt und stürmte auf die Verwandten zu. Sie hatten einen Halbkreis gebildet, reckten ihr stahlend die Hände entgegen. Keiner kam zu kurz. War das ein Herzen und Schnäbeln! Isabella kam gar nicht zur Besinnung ob all der Zärtlichkeiten. Erst nachdem auch der letzte Anwesende ihr seine Liebe wortreich bekundet hatte, blickte sie sich suchend um. Schnee, so weit das Auge reichte. Und Eisschollen, die auf dem Meer trieben.
„Wo sind wir?“, fragte Isabella erstaunt und kniff sich in den Arm, um sicher zu gehen, dass sie nicht träumte. „Am Ende der Welt?“
„So ungefähr“, antwortete Halina. „Hier, im äußersten Norden Deutschlands, wird dich kein Häscher finden. Und falls doch, fliehen wir nach Dänemark. Ist nur einen Steinwurf entfernt.“
„Und meine Kinder und Großmutter?“
„Warten im Haus.“
„Ich sehe nirgends ein Gemäuer, nur eine einzige Schneewüste.“
„Dummchen. Habe ich nicht gesagt, dass du die Augen aufmachen sollst?“ Halina schubste sie an der Zigeunersippe vorbei, in Richtung der offenen See.
Wie von einem Zuckerbäcker in die Landschaft gestampft, ragte der weiße Palast in die Höhe. Glich einem schneebedeckten Gebirge, das der Wind aufgetürmt hatte.
Isabella rieb sich die Lider. „Das soll ein Haus sein?“, fragte sie ungläubig. „Ich fühle mich ins Reich der Winterkönigin versetzt.“
„Hoffentlich nicht der Winterkönigin von Böhmen, Elisabeth.“
„Gewiss nicht.“
„Die wahre Königin bist du, Isabella“, mischte sich Karina ein und drückte ihr einen Kuss auf di e Stirn. „Wer solche Grausamkeiten überstanden hat, muss dafür entschädigt werden. Obwohl du die Gräueltaten nie vergessen wirst, sollst du fortan nur noch von Glück umgeben sein. Darum hat Großmutter diesen Palast, weitab von der übrigen Menschheit, für dich ausgesucht und aus Rubinas Schatztruhe bezahlt.“
„Also hattet ihr das Vermögen meiner Mutter die ganze Zeit versteckt?“, fragte Isabella entgeistert.
Halina riss das Gespräch wieder an sich. „Was dachtest du denn? Du konntest doch nicht im Ernst glauben, dass wir zulassen, Rubinas sauer verdientes Geld für den Krieg zu verschwenden. Fass Dir mal an den Kopf. Deine Mutter würde sich im Grabe umdrehen. Hab ich recht, Liebster?“
„Wie immer“, lachte Richard Sander.
„Liebster?“ Isabella kam aus dem Staunen nicht heraus.
„Ja, mein Kind. Es ist viel passiert in den fünf Jahren, die du nicht bei uns sein konntest. Deine Tan te und ich haben geheiratet, ist sie doch Rubinas Schwester, mit der ich zusammen war, bevor sie mir den Kopf verdrehte. Damals habe ich Halina ihretwegen verlassen. Jetzt kann uns nichts und niemand mehr trennen.“
„Verstehe. Deshalb warst du stets so garstig zu mir, Tante, oder?“, sagte Richards Tochter.
„Ich und garstig? Nun mach aber mal ’n Punkt.“ Halina war empört und die Umstehenden lachten.
„Nun kommt endlich in Isabellas neues Heim. Großmutter und die Kinder werden langsam ungeduldig“, rief Luigi in die Runde. Er hatte rasch die Stufen, die zum Eingang führten, gefegt, sodass blau gesprenkelter Marmor unter dem Schnee sichtbar wurde.
Isabella stieg andächtig die Treppe hinauf, strich verträumt über das kunstvoll verzierte Geländer. Sie konnte nicht fassen, dass dies prunkvolle Anwesen ihr allein gehörte. Immer wieder wollte sie stehen bleiben, wurde von den Nachrückenden vorwärtsgedrängt.
In der Eingangshalle bullerte ein offener Kamin wohlige Wärme den frierenden Ankömmlingen entgegen. Isabella reckte und streckte die steifen Glieder, begann, sich in dem herrschaftlich eingerichteten Gebäude umzuschauen, wurde vom Jubelschrei ihrer Zwillinge unterbrochen.
„Mama, Mama, endlich bist du da. Geh nie wieder weg“, rief Alexander und schmiegte sich in die weit geöffneten Arme der Mutter. Wilhelm tat es ihm gleich. Isabella drückte ihre Söhne so fest an ihr Herz, dass alle drei keine Luft mehr bekamen. Eine kleine Ewigkeit
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