Die Heilanstalt (German Edition)
kleinen Bach folgten, der ihnen verlässlich den Weg wies, hauchte ihre Fantasie der Umgebung neues Leben ein.
Sie sahen üppiges Gras, wo nur kalte Kiesel waren, fanden grünes Laubwerk an kahlen Ästen und ließen in Gedanken die toten Tiere auferstehen, die allerorts in Knochen lagen. In ihrer Vorstellung erhellte sich der Himmel, der seit Jahrzehnten verfinstert war, und sie spürten die Sonne auf der Haut, deren Glanz in Wahrheit nie versiegt war.
Sie sahen die Welt nicht, wie sie war, sondern wie sie schon bald sein würde. Sie fühlten nicht länger die gegenwärtige Kälte, sondern die künftige Wärme. Gemeinsam blickten sie voraus auf die erhoffte Zukunft und vergaßen die Strapazen der Wanderung. In ihren Herzen gab es weder Zweifel noch Furcht, nur den festen Glauben an eine bessere Zeit.
Janick erinnerte sich, dass das Wesen über die Hoffnung gesagt hatte, sie sei eines der mächtigsten Gefühle und der nie versiegende Quell des Selbstbetrugs.
Nur dem ersten Teil wollte er zustimmen und hielt den Zweiten für einen Irrtum; denn die Hoffnung ist kein heller Stern, der verglüht, sobald wir nach ihm greifen, sie ist nicht der Traum selbst, dessen Erfüllung wir herbeisehnen, sondern zeigt uns nur den Weg auf. Die Hoffnung verleiht uns die Kraft zum Fortschreiten und treibt uns auch dann noch voran, wenn die Vernunft längst aufgegeben hat. Sie führt uns über Grenzen, die unüberwindlich scheinen, und verlässt uns erst nach dem letzten Atemzug.
Wie konnte ein Gefühl von solch belebender Kraft jemals Selbstbetrug sein? Wie sollte uns ein so inspirativer Wegweiser je in die Irre führen?
Janick wusste, wer die Hoffnung aufgab, wandelte verloren in der Finsternis; wer hingegen auf sie vertraute, dem öffnete sich ein Reich ungeahnter Möglichkeiten.
Er sah Judith an und entdeckte auch in ihrem Blick die furchtlose Ruhe, die ihrer Zuversicht entsprang. Er erkannte die leuchtende Vorfreude in ihren Augen, all ihre Wünsche in Erfüllung gehen zu sehen. Dieses Gefühl von Hoffnung und Vertrauen glitt wie ein warmer Strom durch ihre Seelen und verknüpfte sie miteinander wie ein reißfestes Band.
Auf ihrer Wanderung schwiegen sie zumeist; nicht nur, weil das Tosen des Windes kaum zu übertönen war, sondern vor allem, da Worte nicht nötig waren. Was sie empfanden, das empfanden sie zusammen, und was sie dachten, strömte als geteilter Gedanke durch ihren vereinten Geist. Sie schritten wie im Schlaf voran und verlagerten ihr Bewusstsein in die gemeinsam vorgestellte Welt, in der sich ihre Hoffnung bereits erfüllt hatte. Das Licht, von dem sie träumten, wurde ihnen zur Wirklichkeit, und die Finsternis, in der sie wanderten, erschien ihnen als harmloser Traum. Sie spürten, dass ihnen nichts geschehen konnte, und glaubten, schon bald aus dem Spuk zu erwachen, der wie ein Fluch über die Menschheit gekommen war.
Auf ihrem Weg fanden sie vermehrt kleine Hütten, in denen sie bisweilen rasteten; auch dort sprachen sie nur wenig und sahen sich im Wissen um ihre geteilte Gedankenwelt nur lächelnd an. Wenn sie hungrig waren, aßen sie von den Resten des Proviants, und wenn ihnen dürstete, tranken sie vom Wasser des Bachs. All dies geschah in einem Gefühl sanften Schwebens, das sie beinah schwerelos vorantrug und die träge Leiblichkeit schwinden ließ. Janick erinnerte diese Trance an den Giftrausch vom Magenschleim der Kreaturen. Doch es schreckte ihn nicht. Der geistige Aufstieg, den er verspürte, war nicht künstlich von fremder Hand erweckt, sondern stammte aus der Tiefe seiner Seele, in der sich sein wahres Wesen spiegelte.
Janick fühlte, dass sein Geist so ekstatisch aufgeladen war, dass die Kreaturen sich wochenlang an ihm laben könnten. Dieses Empfinden, das die Seele erhob und über jeden Abgrund trug, dieses tiefe und ureigene Gefühl von Erhabenheit, Hoffnung und Glaube war die Wahrheit des Menschen, nach dem diese Bestien trachteten.
All das verstand Janick nun und war unsagbar froh, dass er mit Judith aus der Speisekammer dieser Ungeheuer entkommen war. Und während sie so zuversichtlich vorangingen und vertrauensvoll dem Bach folgten, während sie im tiefen Ozean ihrer Träume wandelten, verbunden im Geiste und eins in Gedanken, da erschien ihnen am fernen Horizont das Ziel ihrer Reise als tröstliches Licht.
Die Siedlung leuchtete ihnen fortan wie ein heller Stern und führte sie ebenso zuverlässig wie der Bach. Es war ein Stern, der niemals unterging, ein Licht, das nie erlosch.
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