Die Heilanstalt (German Edition)
sich zum ersten Mal in den Frontsektor, der für Kinder streng verboten ist. Ein Jahr später schlich er sich zum Außentor. Als er in der Schule die Gerüchte von der monatlichen Verbannung hörte …«
»Schule?«, unterbrach Judith ihn verblüfft. »In eurer Siedlung gibt es eine Schule, so wie ich sie aus der Erinnerung von Melanie Kahlbach kenne?«
Janick schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist nur ein einziger Raum, in dem Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahr Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Man erfährt dort nichts von der Außenwelt oder den Kreaturen. Wer danach fragt, bekommt eine Tracht Prügel. Mit fünfzehn darf man zwar Bücher aus der Zeit vor der Dunkelheit lesen. Aber es sind von der Führerschaft streng ausgewählte Werke, in denen nicht viel von der alten Welt zu erfahren ist. Zum Beispiel Einführungen in die Mechanik und Thermodynamik, Handbücher des Maschinenbaus oder mathematische Formelsammlungen. Kenntnisse dieser Art kann man der heranwachsenden Generation nicht vorenthalten, so sehr man auch um Unmündigkeit und Unwissenheit bemüht ist. Man braucht Mathematiker, Statiker und Techniker, um die Siedlung instand zu halten.«
Janick hielt inne und knüpfte dann wieder an das Vorherige an.
»Thomas war jedenfalls zwölf, als er von den Verbannungen erfuhr, die zu Beginn jedes Monats stattfinden. In der Schule gaben die Kinder im Flüsterton weiter, was sie aus belauschten Gesprächen der Erwachsenen erfuhren. Thomas ging so offen wie kein anderer mit den Gerüchten um und hatte keine Angst vor den angedrohten Prügeln. Schon seit vielen Jahren hatte er Mutter immer wieder nach der Außenwelt befragt und sie dadurch in erhebliche Schwierigkeiten gebracht. Alle Eltern waren von der Führerschaft dazu angehalten, ihre Kinder nach den Regeln der bestehenden Ordnung zu erziehen. Dazu gehörte, dass man über die Welt jenseits der Siedlungsmauern schwieg und keine kritischen Fragen stellte. Unsere Flurnachbarn sahen Mutter streng an, wenn sie ihren Sohn so sprechen hörten. Sie hatten Angst, ins Visier der Obersten zu geraten und für Widerständler gehalten zu werden.
Da Thomas sich aber nicht den Mund verbieten ließ und seine Neugier durch keine Strafe zu unterdrücken war, stieß er uns immer weiter in die soziale Isolation und bereitete Mutter großes Kopfzerbrechen. Als er mit zwölf beschloss, heimlich das Verbannungsritual zu beobachten, wollte er, dass ich ihn begleite. Ich hatte schreckliche Angst, dass man uns erwischte. Aber ich ließ mich überreden, sodass wir gemeinsam zum ersten Mal die Außenwelt und die Kreaturen sahen. Ich höre noch die Angstschreie der alten Frau, die damals von den Torwächtern in die Finsternis gestoßen wurde. Ich hatte nie zuvor etwas so Grausames und Unmenschliches erlebt. Zugleich beobachteten wir mit Erstaunen die Fähigkeiten der Wesen, die ihre Gestalt nach Belieben veränderten und mit ihrem bloßen Blick einen Kieselhaufen in Lebensmittel verwandelten.«
Janick schürzte nachdenklich die Lippen. »Seit jenem Tag wollte mein Bruder das abscheuliche Ritual der Verbannung beenden und so viel wie möglich über die Kreaturen erfahren, um ihren wunden Punkt zu finden. Es waren keine heroischen Kindheitsfantasien. Thomas dachte schon damals wie ein Erwachsener und lebte seither nur noch für diese Aufgabe. Mit vierzehn erkannte er allmählich die Gefahr seiner rebellischen Gesinnung und hielt sich seitdem verdeckt. Auch um Mutter zu schonen.
Als Thomas sechzehn war, gelangte er in den geheimen Kreis der Widerständler, die schon lange den Werdegang des Jungen verfolgt hatten. Sie erzählten ihm die Geschichte vom Anfang der Dunkelheit, die sie von den Ältesten kannten, und verrieten ihm alles, was sie über die Außenwelt und die Kreaturen wussten, einschließlich ihrer Lichtempfindlichkeit.
Zu jener Zeit wähnte Thomas sich auf dem Weg seiner Bestimmung und führte die Widerstandsbewegung schon bald mit Ehrgeiz an. Trotz der großen Gefahr, warb er unermüdlich um neue Anhänger, leistete Überzeugungsarbeit und erweiterte die Gruppe der Rebellen im Laufe der Jahre auf eine nie da gewesene Größe. Natürlich wollte Thomas auch mich überzeugen, der Bewegung beizutreten, doch aus Furcht weigerte ich mich.«
Janick kaute beschämt auf der Unterlippe. »In diesen Jahren war deutlich zu spüren, dass sich unter der Oberfläche etwas bewegte. Es fand ein Mentalitätswechsel vom Naiven zum Kritischen statt. Angst verwandelte sich in Wut und
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