Die Heilanstalt (German Edition)
blinder Gehorsam in Widerstand. Es war wie eine Verschiebung der Kontinentalplatten, aus dem ein heftiges Beben hervorging, das das alte System zum Einsturz bringen konnte. Mein Bruder kratzte am Thron der Führerschaft und säte Hoffnung in den Herzen der Siedler. Er zeigte ihnen einen neuen Weg, der gefährlicher und steiniger war als der alte, aber der sich erhobenen Hauptes beschreiten ließ und in ein helleres Leben führte. Wer sich auf diesen Weg begab, spürte, dass es richtig war, und blickte nie zurück.
So wuchs der Kreis der Widerständler beständig heran, mit meinem Bruder an der Spitze; und sie wollten ihren Zusammenhalt so lange geheim halten, bis die Zeit reif wäre, die Führerschaft zu stürzen und die Siedlung zu übernehmen.
Thomas träumte davon, dass die Menschen sich mit vereinter Kraft gegen die Kreaturen zur Wehr setzten. Er träumte davon, dass die Sonne wieder aufging und das Licht in die Welt zurückkehrte. Er träumte von Recht und Freiheit.
Doch er wusste, das alles konnte nur geschehen, wenn er die entscheidende Schwachstelle der Wesen fände, ihre Achillesferse, wie Leo es genannt hat. Es musste mehr sein als ihre schon bekannte Lichtempfindlichkeit, ein wunder Punkt, der sie zu Fall brächte.
Nachdem durch Mühe und Risiko so viel erreicht war, wurde mein Bruder durch einen Glücksfall belohnt, der ihn seinem Ziel näher brachte als je zuvor.«
Janick unterbrach sich und sah Judith fragend an. »Ist es einem Nomaden je gelungen, aus der Gefangenschaft der Wesen zu entkommen?«
Judith nickte. »Wir nennen sie Rückkehrer . Von ihnen haben wir unser geringes Wissen über die Kreaturen, etwa dass sie den Menschen ein betäubendes Gift einflößen und ihnen die Erinnerungen nehmen.«
Janick zog die Brauen zusammen. »Auch vor dem Tor unserer Siedlung ist einmal ein Rückkehrer aufgetaucht. Ein Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Er hieß Martin. Die Obersten haben lange darüber beraten, was sie mit ihm anstellen sollten. Sie haben bestimmt auch darüber nachgedacht, ihn dort draußen sterben zu lassen. Aber schließlich überwog sogar bei ihnen das Mitgefühl, sodass sie den Jungen einließen. Allerdings haben sie das Wunder seiner Rückkehr vor den Siedlern verheimlicht. Es bedeutete, dass man den Wesen entkommen konnte und sie keine unüberwindlichen Götter waren. Die Führerschaft wollte den Menschen keine Hoffnung machen, denn auf ihrem Boden keimt der Widerstand. Daher schwiegen sie über Martin und kümmerten sich nicht um ihn. Tagelang irrte der Junge mit trüben Augen durch die Siedlung, erntete verwunderte Blicke, da ihn niemand kannte, und redete wirr vor sich her. Er sprach von Geistwesen, die zugleich überall und nirgends waren. Er nannte sie teuflische Raubtiere mit einem himmlischen Ziel. In seinem Gesicht begegneten sich Angst und Ehrfurcht.
Als Thomas von dem Jungen erfuhr, suchte er ihn auf und blickte in seine trüben Augen. Er erkannte sofort, dass Martin aus der Dunkelheit zurückgekehrt war, von jenem Ort, den alle so sehr fürchteten. Ich erinnere mich an die Aufregung meines Bruders, als er mir von dem Jungen erzählte. Er hielt ihn für den Schlüssel, um das notwendige Wissen über die Kreaturen zu erlangen. Thomas sprach ganz offen vom baldigen Triumph über die Wesen und verhielt sich so unvorsichtig wie in seiner Kindheit. Aus Angst brachte ich ihn zum Schweigen und bat ihn, Martin nie wieder in meiner Gegenwart zu erwähnen. Anstatt seine Euphorie zu teilen, habe ich mich von ihm abgekehrt. Erst später verstand ich, wie sehr ich Thomas mit diesem Verhalten enttäuscht habe. Er sah in mir einen der vielen Feiglinge, die lieber ein Leben in Ketten führten, als für die Freiheit zu kämpfen. Er hielt sich seither von mir fern und berichtete mir nichts mehr von den Fortschritten und Plänen des Widerstands. Selbst als Martin einige Monate später verstarb, was für meinen Bruder ein großer Verlust gewesen sein muss, wollte er nicht mit mir reden.«
»Wie ist er gestorben?«, fragte Judith, obwohl sie die Antwort im Grunde schon kannte. Janick sah traurig zu Boden und bestätigte somit ihre Vermutung.
Alle Rückkehrer sehnten sich in den Rausch zurück, in dem es weder Schmerz noch Leid gab. Sie hatte es nie glauben wollen, doch jetzt spürte sie selbst mit großem Bedauern, wie die Erinnerungen von Melanie Kahlbach mehr und mehr in ihrem Geist verblassten, Erinnerungen an eine helle, warme Welt, lange bevor die Sonne hinter schwarzen Wolken
Weitere Kostenlose Bücher