Die Heilanstalt (German Edition)
darüber beschwerten, dass sie schon viel länger gewartet hatten.
Entspannt nahm Patrick den zweiten Tee zu sich, grinste mit glasigen Augen über dessen Schillern, studierte das Spiel der sich windenden und wandelnden Formen noch ausgiebiger als vorhin und ließ jeden Schluck wie ein Weintester über die Zunge gleiten.
»Was für ein Leben!«, lallte er und wähnte sich in der vollendeten Glückseligkeit. Der Lärm der Leute, das Geschrei der Ungeduldigen, das Gelächter und Gekreisch, das alles durchdringende Stimmengewirr, dieser allgemeine, nie endenwollende Krach, der ihn beim Hereinkommen so sehr gestört hatte, dass er am liebsten gleich wieder hinausgegangen wäre, erreichte ihn jetzt kaum noch. Zwar hörte er den Lärm nach wie vor, doch machte ihm der Geräuschpegel nichts mehr aus; er sah sich lächelnd um und fühlte sich vor allem Unangenehmen gefeit, als wäre er von einem Schutzschild umgeben.
Wie lang er in diesem Zustand verharrt hatte, konnte er nicht sagen – es mochten wenige Minuten oder auch eine Stunde gewesen sein –, als ihm plötzlich ein Finger auf die Schulter tippte. Patrick fühlte sich gestört und drehte sich mit düsterer Miene um. »Was ist denn?«
Im ersten Moment war die Person vor ihm so unkenntlich wie auf einer verwackelten Fotografie. Patrick rieb sich die Augen und erschrak, als er Melanie erkannte.
»Na, hast du deinen Durst gestillt?«
Patrick vermochte ihren Tonfall nicht recht zu bewerten, da ihre Stimme ihn so verzerrt erreichte, als würde sie aus einem tiefen Tal zu ihm empor hallen; sämtliche Geräusche seiner Umgebung klangen eigenartig übersteuert wie auf einer schlechten Tonbandaufnahme. Die größte Sorge aber bereitete ihm seine Sehkraft: Die Konturen zitterten vor seinen Augen und schwammen hin und her wie bei starkem Seegang. Patrick massierte sein Gesicht, schüttelte den Kopf und merkte, wie seine Sinne sich allmählich wieder klärten.
»Entschuldige«, sagte er und musste sich erheblich aufs Sprechen konzentrieren, um nicht zu nuscheln. »Es ist so voll hier, da musste ich eine Weile auf mein Getränk warten.«
Ob diese Aussage sinnvoll oder abwegig war, hing von der Dauer ab, die er an der Theke verbracht hatte; eben diese Zeitspanne war ihm aber völlig unbekannt. Erschöpfung und Orientierungslosigkeit übermannten ihn; er glaubte, so müsse sich ein Alkoholiker fühlen, der in einer fremden Gasse erwacht und sich zwar vage der Geschehnisse entsinnt, die sich während seiner Trunkenheit zugetragen haben, vielleicht gar noch manche Einzelheit im Gedächtnis hat, aber außerstande ist, die vergangenen Eindrücke zu einem sinnvollen Ganzen zu fügen.
Je mehr sein Verstand wiederkehrte, umso deutlicher vermochte er über all das nachzudenken und desto größer wuchs sein Unbehagen. Was für ein Rausch war bloß über ihn gekommen? Er erinnerte sich an seine Zufriedenheit, entsann sich des Glücksgefühls, spürte noch Überreste jenes Zustands, von einem Schirm umgeben zu sein, der ihn von allen Lasten und Ärgernissen der äußeren Welt abgrenzte.
Patrick öffnete den Mund und fürchtete einen Augenblick lang, die Worte kämen als unverständlicher Brei heraus. Aber das Sprechen gelang nun wieder etwas besser.
»Was hast du in der Zwischenzeit getan?«
Diese Frage stellte er aus zwei Gründen. Zum einen beabsichtigte er, auf diese Weise indirekt zu erfahren, wie lang diese »Zwischenzeit« angedauert hatte. Zum anderen wollte er herausfinden, ob Melanie sein irrsinniges Benehmen mit angesehen hatte. Vielleicht war sie anderweitig beschäftigt gewesen, hatte sich möglicherweise mit einem Patienten unterhalten, beim Billard oder Airhockey zugesehen, war ganz einfach woanders gewesen, sodass sie nichts von seinem Rausch mitbekommen hatte. Ebenso war es denkbar, dass sie alles gesehen hatte: wie er die beiden Männer weggestoßen und seine Hände auf die Theke geknallt, wie er schreiend seinen Tee bestellt und voller Ungeduld die Angestellten beschimpft, und schließlich auf welch verklärte Weise er den Tee angestarrt und sich ihn daraufhin gewaltsam in den Rachen geschüttet hatte.
Aber offenbar hatte Patrick Glück, denn Melanie antwortete, dass sie zur Toilette gegangen sei, um ihm daraufhin zur Theke zu folgen. Daraus schloss Patrick, dass er nur Minuten hier verbracht und Melanie sein befremdliches Auftreten wohl versäumt hatte. Erleichtert atmete er auf, wenn er auch die Besorgnis in Melanies Gesicht wahrnahm, die, wie Patrick
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