Die Heilanstalt (German Edition)
zu trinken besorgen wolle.
»Ist gut«, erwiderte sie lächelnd. »Ich stelle mich für uns beide an.«
Melanie begab sich zum Anfang des Buffets, wo sie zwei Tabletts vom Stapel nahm und sich dann in die Schlange einreihte. Sie schien von Patricks Leiden nichts bemerkt zu haben, worüber er froh und sogar ein wenig stolz war. Der Drang hatte inzwischen das Ausmaß körperlicher Schmerzen angenommen, sodass Patrick sich wie ein verwundeter Soldat zur Teekanne schleppte.
Glücklicherweise war sie kurz nach der Eröffnung des Buffets nicht ganz so belagert wie üblich; nur zwei Mädchen füllten gerade einen Becher, indem sie die Kanne im Spiel gemeinsam wackelig festhielten und dabei einiges auf die Tischdecke verschütteten. Schuldbewusst blickten sie sich um und trugen den vollen Becher dann kichernd fort. Patrick fand solche vergnügt spielenden Kinder normalerweise reizend, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand an nichts erheitern. Er fühlte sich elend, eine wahre Übelkeit hatte ihn ergriffen, und einen Moment lang glaubte er, die letzten Meter bis zur Teekanne nicht mehr überwinden zu können. Aber dann gelang es ihm unter erheblicher Anstrengung doch, auch wenn er den Becher nur bis zur Hälfte füllen konnte, ehe sein Arm vor Erschöpfung niedersank.
Patrick schloss die Augen und hob den Becher an den Mund. Ihm war, als hätte ihn eine Schlange gebissen, für deren tödliches Gift der Tee das einzige Gegenmittel war. Und wirklich, kaum war der erste Schluck seinen Hals hinabgeflossen und in den Magen vorgedrungen, fühlte er eine unvergleichliche Linderung seiner Qualen. Es war, als hätten seine inneren Organe in Flammen gestanden, die nun vom Tee auf besänftigende Weise gelöscht wurden. Schnell kippte er den restlichen Becherinhalt nach und erstickte somit auch noch das letzte Unbehagen.
Patrick stand eine Weile bewegungslos da und blickte starr vor sich hin. Er fühlte, wie der Tee sich in seinem Körper ausbreitete und schließlich auch seinen Geist erreichte. Wenig später fühlte er sich so wohl, als wäre ihm auf schmerzhafte Brandwunden eine kühlende Salbe aufgetragen worden. Er blickte zu Melanie und brauchte eine Weile, um ihre Erscheinung in sein getrübtes Gesichtsfeld zu fassen. Als er sah, dass sie noch immer in der Schlange stand und ihn nicht beobachtete, füllte er den Becher von Neuem. Beinah in einem Zug trank er ihn aus und presste anschließend die Lippen zusammen, um einen Schrei der Begeisterung zu unterdrücken. Ein Schwindel brach über ihn herein, und die Welt geriet kurzzeitig aus den Fugen. Die Umgebung kreiste ihm vor den Augen, und Patrick musste sich an den Tisch klammern, um nicht zu stürzen. Nach einem Moment war es vorbei und es verblieb nur jenes Gefühl der Schwerelosigkeit, nach dem er sich so gesehnt hatte. Patrick stieß einen Seufzer des Genusses aus, grinste über das ganze Gesicht und füllte den Becher noch einmal. Leichten Ganges trug er ihn an seinen Platz, grüßte mit ausladender Geste das greisenhafte Pärchen, das noch immer regungslos am Tisch saß, und gönnte sich daraufhin einen Blick in die wallenden Tiefen des Tees. Anschließend gesellte er sich zu Melanie in die Schlange.
»Wieder ein wahres Festmahl heute«, sagte sie fröhlich und übergab ihm das zweite Tablett.
»Hört, hört!«, erwiderte er mit erhobener Stimme. Die Albernheit dieser Worte war ihm peinlich, nachdem er sie gesprochen hatte. Doch Patrick war froh, dass seine Aussprache ganz deutlich klang, obwohl seine Zunge, wie auch sein restlicher Körper, so kurz nach dem Konsum des Tees noch wie betäubt waren. Patrick lernte allmählich, mit dem Rausch umzugehen, und verstand es immer besser, ihn im Inneren zu genießen, aber nach außen hin vor Melanie zu verbergen. Auch in dieser Hinsicht verglich er sich mit einem Alkoholiker, dem man unter Umständen nicht anmerkt, dass er zum Frühstück eine Flasche Wodka geleert hat. Patrick war mit dieser Vorstellung einverstanden, denn letztlich wollte er nichts anderes, als die Heilwirkung des Tees in sich zu spüren, ohne von anderen, insbesondere von Melanie, seltsam beäugt zu werden. Solang er den Tee, der seinen Geist vitalisierte und seinen Körper beruhigte, ohne lästige Fragen genießen durfte, war er zufrieden, mehr noch, war er glücklich und ausgeglichen. Melanie war selbst schuld, dass ihre Heilung ausblieb, wenn sie diese Wunderarznei ablehnte. Womöglich hatte sie noch Monate in der Ersten Abteilung vor sich,
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