Die Heilanstalt (German Edition)
Lächeln im Speisesaal um und schien im ersten Moment durchaus konzentriert und aufmerksam. Bei näherem Hinsehen war jedoch bemerkbar, dass ihr Blick an nichts haften blieb und ihre Augen fortwährend hin und her wanderten, als würden sie etwas suchen, das sie bei aller Mühe nicht fanden. Patrick konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Frau sich mit dem gleichen, leeren Blick und eben jenem Lächeln auf einem sinkenden Schiff oder in einem brennenden Haus umgesehen hätte. Hin und wieder bewegte sie kaum merklich die Lippen, und erst nach einer Weile wurde Patrick gewahr, dass sie dann leise vor sich hinmurmelte, als beschwöre sie die Toten. Tat sie es, nickte der Greis neben ihr in trägen Kopfbewegungen, als würde er ihrem Gemurmel halbherzig zustimmen. Patrick und Melanie wechselten einen befremdeten Blick.
Um Punkt 12 Uhr ertönte der Gong, der das Mittagsbuffet eröffnete.
Aus einer Flügeltür hinter dem Buffet erschienen einige Bedienstete mit weißen Kochhauben auf den Köpfen und trugen große, silberne Behälter herein, die sie auf Gasflammenvorrichtungen auf dem langen Tisch abstellten. Mit feierlicher Gebärde entfernten sie die Deckel, unter denen weiße Dampfwolken hervor strömten, die den Saal mit herrlichen Speisedüften erfüllten. Ein erfreutes Raunen ging durch die Reihen, an manchen Tischen wurde anerkennend applaudiert. Sogleich erhoben sich die ersten Patienten, um sich an den frisch aufgedeckten Speisen zu bedienen; bereits nach weniger als einer Minute hatte sich am Buffet eine lange Schlange gebildet. Nach und nach trudelten die restlichen Gäste vom Freizeitgelände in den Speisesaal und nahmen entweder auf Stühlen Platz, die man für sie freigehalten hatte, oder stellten sich gleich in die Warteschlange.
Melanie schlug vor, den ersten Ansturm abzuwarten, worin Patrick zögernd zustimmte. Zögernd, da er – ohne es sich selbst ganz eingestehen zu wollen – schon wieder erste Anflüge jenes Kribbelns im Magen verspürte und sein Blick sehnsüchtig zur Teekanne am Ende des Tisches wanderte. Es war, als würde von dort eine Zugkraft auf seinen Körper wirken, der er nur mit erheblicher Willenskraft widerstehen konnte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt vermochte er noch still zu sitzen, ohne sich etwas anmerken zu lassen, wusste aber, in absehbarer Zeit würde der Drang wieder unwiderstehlich werden und sein Körper willenlos zum Tee schreiten. Patrick hoffte, lange genug durchhalten zu können, um vor Melanie eine weitere befremdliche Szene zu vermeiden. Doch die Zeit schien sich in die Länge zu ziehen wie ein Gummiband. Die Schlange der Anstehenden wollte nicht kürzer werden; verließ vorn ein Patient mit vollgeladenem Tablett die Reihe, stieß von hinten ein neuer hinzu. Patrick begann die Trödler zu hassen, die wählerisch in die offenen Behälter blickten, manche Speise bereits mit der Greifzange hervorgeholt hatten, nur um sie in der Luft haltend zu betrachten und nach kurzer Überlegung wieder fallen zu lassen. Nervös ließ Patrick die Zunge im Mund umherwandern; er war kaum hungrig, aber litt unter einem so grässlichen Durst, als wäre er den ganzen Tag über heiße Sanddünen gewandert. Bald begannen seine Beine zu zittern und seine Füße zu zappeln, als müsste er dringend auf die Toilette. Er sammelte Speichel im Mund und schluckte mehrmals, um seine trockene Kehle zu benetzen. Nicht viel später begannen auch Patricks Hände zu zittern, worauf er sie krampfhaft zusammenlegte, um es zu verbergen. Sein Magen bebte, sein Herz raste, sein Rachen brannte. Und noch immer strömten vom Freizeitbereich weitere Patienten herein und sorgten dafür, dass die Schlange am Buffet ihre Länge bewahrte.
Patricks Durchhaltevermögen schwand. Als er spürte, dass seine Stirn feucht wurde und sein Oberkörper unter dem weißen Gewand juckend zu schwitzen begann, glaubte er, die Grenze des Erträglichen erreicht zu haben und nicht länger gegen das Bedürfnis ankämpfen zu können. Gerade wollte er sich erheben, um zur Teekanne zu eilen, als Melanie endlich die erlösenden Worte sprach: »Ach, stellen wir uns einfach an. Wahrscheinlich wird die Schlange in einer halben Stunde noch genauso lang sein.«
Patrick verspürte Dankbarkeit und hätte Melanie am liebsten einen Kuss auf die Wange gegeben. Doch er bemühte sich, ihr nichts von seiner Erleichterung zu zeigen, stimmte ihr nur zu und sagte beiläufig, dass sie sich doch schon anstellen solle, während er sich schon etwas
Weitere Kostenlose Bücher