Die Heilanstalt (German Edition)
wusste, auf seine glasigen Augen zurückzuführen war. Er benötigte keinen Spiegel, um es zu überprüfen – er fühlte es. Sein Gesicht war seltsam unbelebt, regelrecht betäubt; sein Körper fühlte sich auf wundersame Weise masselos an, als hätte die Schwerkraft nachgelassen. Ein Gefühl von Leichtigkeit umgab ihn, als wäre ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden, ein Empfinden von Freiheit, das ihn – man muss es so sagen – schweben ließ.
Patrick verspürte das Verlangen, es Melanie zu beschreiben; er wollte ihr erklären, wie wunderbar dieser Zustand war und wie gut es ihm tat. Sie selbst musste unbedingt einmal den Tee kosten, ungeachtet ihres von der Großmutter verursachten Traumas. Seine Wunderwirkung würde sie tausendfach für die Überwindung entschädigen, jene unvergleichliche Leichtigkeit von Körper und Seele, die er auslöste und sich gar nicht hinlänglich in Worte fassen ließ. Jeder musste sie selbst erfahren, die himmlische Heilkraft des Tees. Patrick lächelte bei dieser Gedankenschwärmerei und hatte schon den Mund geöffnet, um seine Begeisterung kundzutun, als Melanie ihm zuvorkam.
»Es wird gleich zum Mittagessen geläutet«, sagte sie und sah ihn prüfend an, denn sie verstand sein verträumtes Grinsen nicht. Patrick aber wusste, welche Lebensfreude seine Magengrube umschwirrte, eine schwer benennbare Kraft, die in ihrem Wesen zweigeteilt war. Einerseits rief sie in ihm eine Art des Aufgedrehtseins hervor, ähnlich dem Gefühl, das sich beim Achterbahnfahren einstellt; es war, als schösse Adrenalin durch seine Venen, das sein Blut in Wallung brachte und das Herz pochen ließ. Zugleich war diese aufputschende Wirkung aber wie in einen festen Kern gebannt, der von jener Leichtigkeit und Ausgeglichenheit war, die ihn in höhere Sphären zu heben schien. Nach dem Genuss des Tees herrschte in Patricks Innerem eine aufgeregte Lebenskraft im Gleichtakt mit sanfter Seelenruhe, eine Vereinigung völlig entgegengesetzter Gefühle, die er zuvor nicht für möglich gehalten hätte.
Patrick dachte nicht daran, eine ernste Miene aufzusetzen, und schmunzelte umso mehr, als er Melanies Verwirrung bemerkte. Sie sollte ihm ansehen, wie wohl ihm war. War es möglich, dass diese Heilanstalt bereits am ersten Tag einen solch positiven Einfluss auf ihn hatte?
Alle Achtung, Herr von Wallenstein. Ihr Geheimrezept ist ein wahres Wunderelixier.
Ein kurzes Lachen platzte aus Patrick heraus. »Wollen wir also schon zum Speisesaal?«, fragte er und schaffte es kaum, seine Heiterkeit einzudämmen.
Melanie sah ihn irritiert an. »Ja, das wäre zu empfehlen. Am Mittag ist es noch voller als morgens. Wenn wir etwas früher da sind, bekommen wir einen Platz nah am Buffet.«
Patrick klatschte in die Hände. »Dann auf, auf!«
Widerwillig machte er sich von der Theke los und hielt ihr einen Arm hin. Melanie sah ihn forschend an und schüttelte leicht den Kopf. Als Patrick ein lächerlich übertriebenes Grinsen aufsetzte, steckte es Melanie an, worauf sie herzhaft lachte.
»Du bist schon ein verrückter Kerl!«, rief sie und hakte sich bei ihm ein.
Mittagstisch
Es blieb noch eine Viertelstunde bis zur Eröffnung des Mittagsbuffets, aber schon jetzt waren nur noch wenige freie Tische vorhanden. An fast jedem saß mindestens ein Patient, der wachsam die restlichen Stühle für nachrückende Bekannte freihielt. Näherte sich eine fremde Person, wurde ihr kopfschüttelnd erklärt, dass der Tisch bereits besetzt sei. Obwohl Patrick und Melanie früh den Speisesaal betreten hatten, konnten sie nur mit Mühe zwei Plätze in Buffetnähe ergattern, nachdem sie zuvor von drei anderen Tischen abgewiesen worden waren. Der Mann und die Frau, die ihnen schließlich gestatteten, Platz zu nehmen (genau genommen widersprachen sie nur nicht, als Patrick und Melanie höflich anfragten), waren greisenhaft alt und auf beängstigende Weise geistesabwesend. Der Mann war fettleibig und kahlköpfig; nur noch vereinzelte graue Härchen sprossen aus seinem rissigen Schädel. Sein Gesicht war fleischig und von Mitessern übersät. Seine Augen waren starr auf den Tisch gerichtet, als würde er dort Kleingedrucktes entziffern. Dazu wollte sein Blick allerdings nicht passen, der so verträumt in die Ferne stierte, als würde er den Mond betrachten.
Die Greisin an seiner Seite war schlank und ihr Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Ihr weißes Haar fiel als lichte Mähne auf ihre Schultern. Sie sah sich mit einem
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