Die Heilanstalt (German Edition)
Zufriedenheit. Wie im Hitzeflimmern schwirrten ihm die Dinge vor den Augen, und auch seine restlichen Sinne waren wie eingeschlummert. Patrick war beschwerdefrei und gelöst von allen Sorgen. Um nichts in der Welt wollte er dieses behagliche Gefühl der Schwerelosigkeit aufgeben.
Stöhnend breitete er die Arme auf der Banklehne aus und schlang eher unabsichtlich einen Arm um Melanies Schultern. Patrick bemerkte ihre überraschte Miene nicht. Mit ausdruckslosen Augen und einem erstarrten Lächeln ließ er den Blick über den Hof schweifen, in dem das Wetter immer schön war und stets eine so friedvolle Atmosphäre herrschte wie auf einer unberührten Waldlichtung.
»Es ist ja wirklich wie unter freiem Himmel!«, bemerkte er heiter und wunderte sich nicht, wie er es noch vor einigen Stunden getan hatte, dass es in dieser Anstalt keinen echten Außenbereich gab. Solche Fragen kümmerten Patrick nicht mehr, und ihm fiel nicht ein, sein Wohlgefühl durch schädliches Nachdenken zu trüben.
Adam und Eva brachte es nur Ärger ein, als sie im Paradies vom Baum der Erkenntnis aßen , dachte er grinsend und schloss die Augen zum Dösen.
Die Stimme der Vernunft
Melanie hatte den Blick auf ihr Gewand gesenkt und betrachtete unbehaglich die für sie falsch herumstehenden Buchstaben über der linken Brust.
Melanie Kahlbach …
Sie las den Namen wieder und wieder und fühlte jedes Mal, dass er falsch war.
Sie wusste, dieser Name war eine Lüge, so wie alles hier Lüge war. Sie kannte die Wahrheit, kannte ihr wahres Ich und die Welt außerhalb dieser Mauern. Aber sie konnte ihre Zweifel nicht beseitigen.
In ihrer Erinnerung herrschte ein Zwiespalt zweier Leben, die an der Wahrheit zerrten wie zwei Hunde an einem Knochen.
Aber du weißt, welches dein wahres Leben ist , sprach eine vertraute Stimme in ihr, die Stimme der Vernunft. Während der zwei Wochen, die Melanie hier verbracht hatte, hatte sie diese Stimme stets zum Schweigen gebracht, wenn sie sich zu Wort gemeldet hatte. Zum ersten Mal ließ Melanie sie nun sprechen.
Du kennst die Wahrheit und brauchst nur den Mut, sie dir einzugestehen , gemahnte die Stimme.
Melanie dachte an jenes Leben, das sie Patrick verschwiegen hatte, und ließ die verdrängten Erinnerungen so nah an sich heran, wie sie es bisher nicht gewagt hatte. Ihre Angst, unter einer geistigen Erkrankung zu leiden, für die sie keinen Namen wusste, hatte sie bislang davon abgehalten. Doch nun ließ sie jenes Leben vor dem inneren Auge ablaufen, wenn es ihr auch schwerfiel und sie vor Angst am ganzen Körper zitterte.
Du kennst die äußere Welt , sprach die Stimme wieder in ihr. Du kennst die ewige Dunkelheit, in die sie gebettet ist.
Melanie kämpfte mit den Tränen, doch sie klammerte sich an die Erinnerungen, anstatt sie wegzustoßen. Sie wusste, dank Patrick besaß sie endlich den nötigen Mut. Sie wollte ihm von der Finsternis erzählen, die draußen herrschte, von der Nacht, die niemals endete, von dem verdunkelten Himmel, der ohne Mond und Sterne war. Sie wollte ihm sagen, wie die Welt wirklich war – jenseits der Heilanstalt.
Zugleich wusste sie, dass sie möglicherweise irrte und den Verstand verloren hatte; vielleicht war es geschehen, als sie an jenem Morgen, während ihrer Frühschicht, gestürzt war und sich den Kopf an der Tischkante gestoßen hatte. Es war nicht auszuschließen, dass jenes andere Leben in ihrem Gedächtnis bloß Einbildung war, eine Illusion, ausgelöst durch ihren Unfall. Vielleicht war das Leben, von dem sie Patrick erzählt hatte, ihr einziges und ihr Name tatsächlich Melanie Kahlbach. Waren sie aber wahr, jene Bilder, die als alternative Vergangenheit in ihrem Kopf kreisten, so musste sie Patrick einweihen. Denn dann wären alle Menschen in diesem Sanatorium todgeweiht; sie beide eingeschlossen.
Melanie war sicher, dass Patrick etwas ahnte. Heute Morgen nach dem Frühstück, kurz bevor sie durch den Wandelgarten spaziert waren, hatte sie in seinem Gesicht einen deutlichen Ausdruck erkannt: Sorge und Furcht waren sich in seinem Blick begegnet, eine tief greifende Angst vor einer unsichtbaren, aber spürbaren Gefahr hatte in seinen Augen gestanden. Patrick fühlte, dass ein dunkler Schleier über dieser Heilanstalt lag, ein kalter Schatten, der hinter allem lauerte. Sie musste ihm die Wahrheit offenbaren, die hinter dem Trugbild verborgen war; er würde ihr glauben, da das Wissen bereits in seinem Inneren lag, auch wenn es aus einem Dämmerschlaf erweckt werden
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