Die Heilanstalt (German Edition)
innen an den Sargdeckel klopfen. Es war, als wäre unverhofft wieder etwas greifbar, das für immer verloren schien. Patrick konnte es nicht erfassen, wusste nicht, was es war, verspürte nur jenes besondere Gefühl der Erinnerung, das ungleich mächtiger war als seine zehrenden Schmerzen und das mit ihnen verbundene Bedürfnis nach dem Tee.
Patrick las die handgeschriebene Botschaft etliche Male, forschte nach ihrer Bedeutung und richtete sein ganzes Wesen auf jenes tief in ihm verborgene Entsinnen. Dieses Gefühl war so zerbrechlich wie ein Traum, der jeden Moment enden mochte. Er wusste, dass er es nicht fortwehen lassen durfte, fühlte, wenn er die vage Verbindung zu jenem verschütteten Etwas in seinem Inneren nicht mit aller Kraft festhielte, wäre es bis in alle Zeit verloren.
Patrick atmete tief durch. Dann zog er sich am Waschbecken hoch und griff, kaum dass er stand, zur Teekanne; diese Handbewegung war nicht gewollt, sondern geschah unbewusst, fast reflexartig. Seine Zunge leckte die trockenen Lippen, und sein Magen schrie nach der leuchtenden Flüssigkeit. Doch jenes an die Oberfläche strebende Gefühl hielt Patrick davon ab, den Becher zu füllen und zu trinken, jenes unterschwellige, aber machtvolle Empfinden, das die kurze Nachricht in ihm erweckt hatte.
Du bist nicht Patrick Baumgartner …
Wieder kam ein Schwindel über ihn, und Nadeln bohrten sich durch seinen Kopf. Er fasste sich stöhnend an die Schläfe, torkelte, doch blieb auf den Beinen.
Trink nicht den Tee, er verschleiert deine Erinnerung …
Patrick richtete den Blick auf die Kanne, umklammerte sie mit der linken Hand und hob sie auf Augenhöhe.
Nimm nicht die blaue Pille, sie täuscht dich …
All jene Erinnerungen, die nach dem Aufwachen über ihn gekommen waren, begannen plötzlich zu flimmern und zu flackern wie über heißer Flamme.
Es ist möglich, davon loszukommen …
Patrick knirschte mit den Zähnen, hielt mit der rechten Hand seinen schmerzenden Kopf und in der linken weiterhin die Kanne. Etwas geschah in seinem Verstand, in seinem Gedächtnis; jene Bilder seiner Vergangenheit als Patrick Baumgartner verloren ihren Zusammenhalt, verblassten und fielen auseinander, derweil jenes Gefühl der Besinnung sich verstärkte und die Schlammschicht allmählich erodierte, unter der die verloren geglaubte Erinnerung begraben lag; immer deutlicher zeichneten sich jene verschütteten Bilder ab und bahnten sich einen Weg an die Oberfläche.
Bitte sei stark, ich muss dich wiedersehen …
»Me… Mel…«
Patrick spürte, wie sein Gedächtnis sich von einem klebrigen Eiter löste, spürte, wie seine wahre Erinnerung den giftigen Schleim abhustete, der sie umschlang und vereinnahmte. Patrick fühlte, wie in seinem Inneren ein Lügengerüst zerbrach und stückweise die Wahrheit ans Licht kam. Er verspürte einen übermächtigen Drang nach dem Tee, glaubte zu verdursten, doch biss die Zähne aufeinander und widerstand. Keuchend hielt er die Kanne über das Waschbecken, bündelte seine ganze Willenskraft im linken Unterarm und drehte das Gefäß dann entschlossen herum. Die türkisfarbene Flüssigkeit ergoss sich in den Abfluss, kreischte wie eine intelligente Lebensform, die ihrem Untergang entgehen wollte. Die betäubenden Formen und Muster prasselten nieder, das türkisfarbene Leuchten klatschte und spritzte in den Abfluss, um in seiner finsteren Tiefe zu verschwinden und auf ewig zu versiegen. Doch mit Verwunderung bemerkte Patrick, dass die Kanne nicht leichter wurde, während ihr Inhalt immerfort ins Becken strömte und wogend in der Dunkelheit verschwand; unaufhörlich rauschte der türkisfarbene Schwall hinab und wollte auch nach über einer halben Minute noch nicht abreißen.
»Was ist das!«
Patrick schraubte die Kanne mit zitternder Hand zu und warf sie entsetzt in eine Ecke des Zimmers. Dann reinigte er das Becken sorgfältig von den verbliebenen Teeflecken, bis von dem betäubenden Schimmern nichts mehr zu sehen war.
Fortan beseelte ihn eine solche Erleichterung, als hätte sich ein Knoten in seiner Brust gelöst. Körperlich war Patrick geschwächt, doch im Geiste fühlte er sich erstarkt. Sein Blickfeld war nach wie vor in leichter Rotation, und seine Knie waren noch weich. Doch der Drang nach dem Tee war verschwunden, als wäre ein Dämon aus ihm gewichen. Patrick spürte, dass das Schlimmste vorüber und der entscheidende Schritt getan war. Er wusste, er hatte den Weg zur Heilung eingeschlagen, zur wahren
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