Die Heilanstalt (German Edition)
ein Mensch gar nicht anders kann , als vollständig zu gesunden.
Patricks Augen füllten sich mit Tränen, während er in Gedanken das breite Lächeln von Wallensteins sah und den strahlend weißen Kittel, der jede Düsternis verleugnete.
Im Grunde seines Herzens wusste er bereits, was an jenem verborgenen Ort, in jener Zweiten Abteilung mit den Menschen geschah. Patrick fürchtete sich so sehr, dass ihm schlecht war, eine schreckliche Übelkeit breitete sich in ihm aus. Und doch war ihm bewusst, dass er keine Zeit mehr vergeuden durfte; er musste den restlichen Schlamm entfernen und mit allen Sinnen erfassen, was darunter lag, er musste sich der Wahrheit stellen, so finster und trostlos sie auch sein mochte. Nur wenn er jenes falsche Leben losließ und sich an seine wahre Vergangenheit erinnerte, würde er Judith retten können … und sich selbst.
Ein letztes Mal sah Patrick auf das Stück Papier in seinen Händen und lächelte traurig.
Bitte sei stark, ich muss dich wiedersehen!
Patrick schluchzte, und sein Gesicht bebte. »Ich muss dich auch wiedersehen.«
Er trat an den Spiegel, um in seine wiedererwachten Augen zu blicken, so fest und eindringlich, wie es im Rausch des Tees unmöglich gewesen wäre. Dann drang er mit aller Entschlossenheit in die Tiefen seiner verschütteten Erinnerung, bündelte seine ganze Konzentration auf die Vergangenheit und besann sich seines wahren Namens, seines wirklichen Lebens und der finsteren Welt, in der er aufgewachsen war.
Die Heilung
Janick Menders blickte gefasst in den Spiegel; er war wieder näher herangetreten, nachdem er zuvor einigen Abstand gehalten hatte. Es war, als hätte er die Reflexion gefürchtet, als hätte er geglaubt, nicht sein eigenes Abbild zu betrachten, sondern ein fremdes Wesen in Menschengestalt, das aus dem Glas ausbrechen mochte, um in seinen Körper zu fahren. Doch Janick hatte bald erkannt, dass dies längst geschehen war.
Gedankenvoll strich er über die eingenähten Buchstaben auf seinem Gewand, las sie wie eine Blindenschrift und suchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Name, der dort stand, und das Leben, das mit ihm verbunden war, nunmehr bedeutungslos geworden waren, mehr noch, dass sie niemals wahre Bedeutung besessen hatten.
Es war schwer zu akzeptieren, dass seine Liebsten, an die er sich so deutlich erinnerte, nie wirklich existiert hatten und dass auch er selbst nicht so gelebt hatte, wie eine Hälfte seines Gedächtnisses es ihm nach wie vor versichern wollte. Janick sah auf den Zettel in seinen Händen, dessen handgeschriebene Botschaft er nun vollständig verstand. Er wusste, dass auch Judith diesen schweren Schritt getan und eingesehen hatte, dass von jenen zwei Leben, die in ihrer Erinnerung miteinander konkurrierten, das schlimmere von beiden das echte Leben war.
Natürlich hatte Janick einen langen inneren Kampf ausgefochten, ehe er mit Fassung in den Spiegel zu blicken vermochte, imstande und willens, jenes Gesicht mit dem richtigen Namen zu verbinden. Er hatte lange geglaubt, ihm fehle die Kraft, sich jener grauenvollen Wahrheit zu stellen, die ein Mosaik trost- und hoffnungsloser Erinnerungen war. Erinnerungen an schwaches, künstliches Licht und ewige Kälte, Erinnerungen an wimmernde Menschen, die zusammengepfercht in engen Räumen saßen und zitternd froren, die niemals genug zu essen hatten und in ständiger Furcht lebten, Erinnerungen an blasse, erstarrte Leichen, deren tödliche Wunden von ihren eigenen Händen stammten. Janick hörte in seiner Erinnerung verzweifelte Schreie, die aus der Schwärze drangen, um kurz darauf für immer zu verstummen, hörte die schnellen Schritte der Verbannten, die stets vergeblich rannten, hörte das Heulen jener Wesen, die in der Finsternis hausten und ihren Tribut forderten.
Es war eine Welt der Grausamkeit und Unmenschlichkeit, in der Janick aufgewachsen war. Und doch bot sie ihm einen Grund zum Atmen, denn er suchte seinen Bruder, der von den Bestien in die Dunkelheit verschleppt worden war, wie so viele vor ihm.
In der Absicht, ihn zu finden, hatte Janick die Siedlung verlassen und sich der fremden Bedrohung ausgesetzt, die draußen in der Finsternis lauerte. Die meisten hatten ihn für sein Vorhaben als Narr beschimpft, und nur die wenigsten hatten begriffen, dass Janick dem einzigen Licht nachwanderte, das in seiner Welt noch schien. Dieses Licht hatte ihn zu einem weiteren geführt, das ebenso hell war.
Bitte sei stark, ich muss dich wiedersehen!
Unzählige
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