Die Heilanstalt (German Edition)
machte, und einen älteren Bruder, Eric, der vor ein paar Jahren nach Kanada ausgewandert war, da dort die Berufschancen für Handwerker besser seien. Seine Eltern hatten sich geschieden, als Patrick noch klein und seine Mutter gerade mit Jenny schwanger gewesen war. Die Mutter lebte bis heute in dem Haus, in dem sie ihre Kinder großgezogen hatte, während der Vater, Wolfgang, schon vor so langer Zeit verschwunden war, dass Patrick nur noch vage Erinnerungen an ihn besaß. Patrick mochte lange und einsame Spaziergänge durch den örtlichen Wald, liebte den Geruch nasser Bäume und das prasselnde Geräusch des Regens auf dichtes Laubwerk; er las gern und viel, zumeist am Abend auf der Wohnzimmercouch im matten Schein einer altmodischen Stehlampe, die seine Großmutter ihm einst zu Weihnachten geschenkt hatte, ein unschön anzusehendes Ding mit antiquarischem Schirm, das ganz und gar nicht zu seiner ansonsten modern eingerichteten Wohnung passte und das er nur aus Höflichkeit behielt, anstatt es auf dem sonntäglichen Flohmarkt zu verscheuern. Patrick verabscheute Lakritze, ertrug den eigentümlichen Geschmack dieses klebrigen Zeugs so wenig, dass er sich als Kind übergeben musste, nachdem er es zum ersten Mal probiert hatte.
»Auch heute bleibt für Sie also kein Wunsch offen; sollten Sie Fragen, Anregungen oder Verbesserungsvorschläge haben, so wenden Sie sich bitte an den für Sie zuständigen Therapeuten und …«
Patrick nahm die Lautsprecherdurchsage nicht länger wahr; lachend schlug er sich die Hände vors Gesicht und badete im bunten Ozean seiner wiedererwachten Erinnerung. Querfeldein reiste er über den verworrenen Schienenweg seines Daseins, sprang von Lebensstation zu Lebensstation und sog bis ins tiefste Mark den einzigartigen Hauch seiner Vergangenheit ein, verweilte kurz in seiner Kindheit, betrachtete schmunzelnd seine ersten Fahrversuche auf einem rostigen Rad, blickte zu seiner Mutter auf, die ihn lächelnd hochhebt, nachdem er gefallen ist, und sah kurz sogar seinen Vater, der sich eine selbst gedrehte Zigarette mit kleiner Feuerzeugflamme anzündet und anschließend genussvoll blaue Wölkchen ausbläst. Er stieß auf unzählige Bilder seiner Geschwister, viele so alt, dass sie ganz vergilbt und verschwommen hätten sein müssen, doch so detailreich und lebendig waren, als lägen die Erlebnisse nur wenige Wochen zurück. Er sah die fünf- oder sechsjährige Jenny, die ihm eine lange Nase macht, nachdem sie ihm beim Frühstück das letzte Croissant weggeschnappt hat, und sah den 13- oder 14-jährigen Eric, der draußen vor dem Haus heimlich raucht und seinen kleinen Bruder unter Morddrohungen anweist, bloß Mama und Papa nichts davon zu erzählen. Patrick erinnerte sich an seinen ersten Besuch im Bowlingzentrum und an sein Erstaunen, als er die vielen riesigen Bahnen erblickte, die sich scheinbar endlos erstreckten; er wusste noch genau, wie viele Kegel er bei seinem ersten Wurf abgeräumt hatte – ganze sieben –, und hörte noch den jubelnden Applaus seiner Eltern, die ihm zugesehen hatten. Er erinnerte sich an seine Jugendliebe, Nathalie Dornfeld, die ihm nach einigen Monaten das Herz gebrochen hatte, indem sie eine Beziehung mit einem seiner besten Freunde begonnen hatte. Ein unbegrenztes Bilderarsenal seiner Schulzeit ergoss sich über ihn, Gesichter von Mitschülern und Lehrern, eingebrannte Eindrücke von Klassenzimmern, verschachtelten Korridoren und dem Pausenhof; er hörte Stimmen, die schon lange verklungen waren, und Gelächter, das viele Jahre zurücklag. Die Erinnerungen an seine Studienzeit kamen über ihn; er sah prall gefüllte Hörsäle und monoton redende Professoren am Pult, hatte den Campus vor Augen, auf dessen ausladender Rasenfläche er im Sommer mit einigen Kommilitonen die Mittagspause zu verbringen pflegte. Schließlich erschienen die Bilder seiner aktuellen Arbeitsstätte vor seinem inneren Auge, das Redaktionsbüro der Tageszeitung, für die er tätig war, und Schnappschüsse seiner kleinen, aber feinen Wohnung. Er sah das gemütliche Wohnzimmer mit der durchgesessenen Couch und die altmodische Stehlampe, den kleinen Fernseher und das Aquarium, in dem längst keine Fische mehr waren, da er sie zu lange zu füttern vergessen hatte. Es kamen Bilder von der zumeist unaufgeräumten Küche und der mit Brotkrumen übersäten Tischdecke sowie vom Schlafzimmer, das er beim Einrichten in naiver Zuversicht mit einem Doppelbett ausgestattet hatte.
Patrick aalte sich in
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