Die Heilanstalt (German Edition)
Zweifel, dass sie keinem Betrug, keiner ausgeklügelten Scheinwahrheit angehörte, sondern dass sie echt war, ursprünglich und wahrhaftig.
»Melanie …«
Nach und nach verband sich mit jener Stimme ein Gesicht; braune, wunderbar lebendige Augen blickten ihn an, unter ihnen ein lächelnder Mund, rings umher langes, brünettes Haar und leicht gerötete Wangen.
Patricks Augen glitzerten, während in seinem Gedächtnis Schlösser zersprangen, die für die Ewigkeit gebaut waren. Stück für Stück kehrte die wahre Erinnerung an den gestrigen Tag wieder, unverfälschte Bilder einer vergangenen Wirklichkeit, in der Patrick Bekanntschaft mit einer jungen Patientin gemacht hatte, die sich ihm als Judith vorgestellt hatte und in deren Gewand doch ein anderer Name eingenäht gewesen war: Melanie Kahlbach.
Sie hatte ein Geheimnis, das sie niemandem anvertrauen wollte, bis sie Patrick traf, der als Einziger unter den Patienten mit offenkundiger Skepsis erfüllt war, mit Bedenken und Zweifeln gegenüber dieser Heilanstalt. Ihm offenbarte sie ihr Geheimnis, soweit sie es vermochte.
Ich weiß, dass mein Name Melanie Kahlbach ist , hatte sie gesagt. Aber dieses Leben ist nicht das Einzige in meiner Erinnerung …
Patrick schaute in die Vergangenheit wie durch dreckiges Glas, entsann sich dunkel seiner kritischen Gedanken bezüglich dieses Ortes und erinnerte sich an sein Unbehagen, das die allzu wunderbare Erscheinung des Sanatoriums von Anfang an in ihm verursacht hatte.
Wieso gibt es in dieser Anstalt keine Fenster und keinen Weg nach draußen? Wie bin ich hierhergekommen? Wieso erinnere ich mich nicht an die Zeit vor meiner Ankunft? Wovon soll ich überhaupt geheilt werden?
Wieder erklang Melanies Stimme in seinem Gedächtnis.
Dieses andere Leben ist mir ebenso real im Gedächtnis. Vielleicht noch realer. Aber es ist grundverschieden; dort bin ich eine völlig andere Person und lebe in einer ganz anderen Welt … einer schrecklichen Welt!
Plötzlich überkam Patrick ein kaltes Grauen, Gänsehaut fuhr über seine Arme. Wieder blickte er auf den Zettel in seinen Händen, las den ersten Satz, der darauf stand und eine immer stärkere Bedeutung gewann: Du bist nicht Patrick Baumgartner.
Mit flackernden Augen blickte er in den Spiegel und starrte in sein bleiches Gesicht.
Wer bin ich?
Patrick zitterte und atmete unruhig. Er fühlte, dass die restlichen Erinnerungen in Reichweite lagen, jene Erinnerungen an die Zeit vor seinem Eintreffen in dieser Heilanstalt, die Erinnerungen an sein richtiges Leben, sein wahres Ich; er spürte, dass er im Grunde nur zuzugreifen und seine wirkliche Identität aus dem Schlick hervorzuziehen brauchte. Doch seine Furcht war unermesslich.
In Gedanken sah er Melanies hoffnungsvoll-betretenen Blick, in dem ihre Gedanken so deutlich lesbar waren wie in einem offenen Buch: In dieser angeblichen Heilanstalt werden die Leute nicht geheilt, sondern mit etwas infiziert, das sie willenlos macht … Wir wissen beide, dass es wahr ist, also lass uns offen darüber sprechen und so schnell wie möglich handeln!
Doch sie hatten nicht darüber gesprochen und nicht gehandelt; zu groß war ihre Angst vor der Wahrheit gewesen und zu schön der Schein, dem sie gleichermaßen erlegen waren. Patrick war zudem süchtig nach jenem Tee gewesen, hatte seine Rauschwirkung keinesfalls aufgeben wollen, die ihn von jedem Schmerz und jeglicher Gedankenlast erlöst hatte, auch wenn er in der Tiefe seines betäubten Verstandes gewusst hatte, dass der Tee schädlich und letztlich tödlich war. Doch diese Sucht hatte er jetzt überwunden, verspürte keinen Drang mehr nach jener wunderlich leuchtenden Flüssigkeit, die die Sinne einschläferte und sämtliche Gedanken im Keim erstickte. Patrick hatte den leuchtenden Tee in den finsteren Abfluss geschüttet und den Rest fortgeworfen, und er wusste, er hat es einzig aufgrund seiner Gefühle zu jener jungen Frau zustande gebracht, Melanie, die in Wahrheit Judith hieß und den berauschenden Tee glücklicherweise nie angerührt hatte. Und doch war sie jetzt in größter Gefahr …
Sollten Sie beim morgigen Frühstück Ihre Bekanntschaft vermissen – jene junge Dame, die ich heute an Ihrer Seite sah –, so darf ich Ihnen zu meiner Freude mitteilen, dass sie inzwischen die Erste Abteilung verlassen und in die Zweite gewechselt ist. Sie wissen es noch nicht: Dort finden unsere Patienten ihre letzte Heilung. Es ist ein ganz bezaubernd eingerichteter Teil unseres Hauses, wo
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