Die Heilanstalt (German Edition)
der Springflut seiner Erinnerungen, durchpflügte das Gewebe seines bisherigen Lebens, tauchte durch die Tiefen seiner Geschichte und empfand dabei eine solche Erleichterung, als wäre er aus einem Albtraum erwacht; seine Sorge von gestern hatte sich als unbegründet erwiesen: Er litt nicht an Amnesie.
Patrick kicherte, als ihm endlich wieder einfiel, weshalb er wirklich in diesem Sanatorium war, denn im Vergleich zu ernsthaften Erkrankungen war seine Beschwerde eine Lappalie: Er litt unter zeitweiser Migräne, wohl ausgelöst durch Überarbeitung und Schlafmangel, wie sein Hausarzt, Herr Landgraf, vermutete, der ihm daher einen kurzen Aufenthalt in einer renommierten Heilanstalt nahegelegt hatte. Nach einigen Tagen der Ruhe und Erholung, so Landgraf, werde Patrick wieder ganz der Alte sein. Natürlich werde er ihm für diese Zeit ein Attest für seinen Arbeitgeber und seine Krankenkasse ausstellen, die die Kosten vollständig übernehmen müsse.
Hin und wieder hatte Patrick unter üblen Kopfschmerzen gelitten, das war also alles, und bestimmt hatte sein Hausarzt recht mit der Annahme, dass er lediglich eine Beurlaubung brauche und ausspannen müsse. In den letzten Wochen hatte Patrick fast täglich bis tief in die Nacht gearbeitet, um aufwendige Recherchen für einen umfangreichen Bericht zu betreiben, für dessen Fertigstellung sein Chef ihm eine kurze Frist gesetzt hatte. Geschlafen hatte Patrick zumeist nur vier oder fünf Stunden, Zeit für anderes als die Arbeit blieb ihm kaum. Er trank jeden Tag Unmengen an Kaffee, ernährte sich von unausgewogener Tiefkühlkost und saß fast durchgängig am Schreibtisch, ohne je an die frische Luft zu gehen. So war es absehbar, dass sein Körper es ihm auf kurz oder lang heimzahlen und in den Streik treten würde. Natürlich war der Redaktionsleiter, Christian Horner, rasend vor Wut gewesen, als Patrick ihm das Attest vorgelegt hatte. Horner war ein aufgewühlter und ehrgeiziger Mann, der wenig Verständnis aufbrachte, wenn einer seiner Angestellten menschliche Züge zeigte, anstatt so rastlos wie eine Maschine zu arbeiten. Es versteht sich, dass Patrick Sorge hatte, er würde bei seinem Arbeitgeber langfristig in Missgunst geraten, wenn er mehrere Tage, vielleicht gar eine ganze Woche lang wegen Kopfweh krankfeierte; kurzzeitig erwog er deshalb, den Rat seines Arztes auszuschlagen und die Arbeit wieder aufzunehmen. Doch immer wenn die Kopfschmerzen wieder einsetzten und die Schläfen so unerträglich pochten, als wäre der Schädel fünf Nummern zu klein für das Gehirn, sah Patrick ein, dass die Kur unumgänglich war. Eine kurze Auszeit betrachtete er im Vergleich zu einer chronischen Erkrankung, die sein Arzt ihm angedroht hatte, als das geringere Übel.
Patrick lag mit geschlossenen Augen unter der Bettdecke und lächelte, auch wenn er in diesem Moment wieder ein dumpfes Stechen in den Schläfen spürte, als läge eine durchzechte Nacht hinter ihm. Die Erinnerung war wieder da und somit auch sein Leben, seine Persönlichkeit, sein Ich. Die Freude über diese unschätzbare Rückgewinnung überwog das Kopfweh bei Weitem. Zweifellos war die Migräne der Grund für seinen gestrigen Gedächtnisausfall gewesen; Patrick hatte einmal in einem Wissenschaftsmagazin gelesen, dass Stress und starke Kopfschmerzen zu einem kurzzeitigen Verlust des Erinnerungsvermögens führen können. Demnach war alles aufgeklärt, alles ließ sich sinnvoll zusammenfügen, alles war gut. Noch ein paar Minuten forschte Patrick in den Tiefen seines wiedergekehrten Gedächtnisses, bis der Schmerz dann doch zu groß wurde und ihn zum Aufstehen zwang. Mühsam stemmte er den Oberkörper in eine aufrechte Position und bemerkte erst, als er sich aus dem Bett schwang, dass er vor dem Schlafengehen vergessen hatte, das Gewand auszuziehen.
Gestern Nacht war ich so unfassbar müde. Der erste Tag in dieser Heilanstalt war wirklich anstrengend. Herr von Wallenstein sagte ja, jeder Patient müsse sich erst einleben und an die fremde Luft gewöhnen.
Patrick benötigte bloß das Wundermittel des Hauses, wie sein Therapeut ihm bereits mehrfach erklärt hatte. Der Tee würde ihm helfen, sich zu entspannen; er ließ den Schmerz zuverlässig vergehen und heilte früher oder später jede Krankheit. Es bedurfte nur seines regelmäßigen Konsums und einiger Geduld.
Patrick wollte den Blick auf die Kanne am Rand des Waschbeckens lenken, doch er verspürte einen heftigen Schwindel, seit er aufgestanden war; die Welt war
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