Die Heilanstalt (German Edition)
Male hatte Janick diese Zeile gelesen, und noch immer bewirkten die Worte ein warmes Glimmen in seinem Magen. Er wusste, sein Leben durfte noch nicht enden; er musste die beiden Menschen finden, die ihm als einzige Lichtblicke verblieben waren, musste sie aus dieser Anstalt schleusen, bevor auch sie Opfer jener Kreaturen wurden.
Janick war nicht sicher, ob Judith noch lebte oder sein Bruder überhaupt hier war. Er hatte keine Vorstellung, wie er sie retten und unbemerkt aus dem Sanatorium schaffen konnte, wusste nicht, wie ihnen die Flucht gelingen und sie den Weg zur Siedlung finden sollten. Vielleicht erwies es sich letztlich als unmöglich, doch Janick sah keinen anderen Grund zum Weiterleben, als den Versuch zu unternehmen.
Er wandte den Blick vom Spiegel ab. Viele Stunden waren vergangen, seit er in die Sphäre jenseits seiner Pupillen vorgedrungen war, um dort sein wahres Ich wiederzuentdecken. Der Vormittag war lange schon vorbei, und auch der Gong zum Mittagsmahl lag inzwischen eine Weile zurück. Janick hatte einige Zeit benötigt, um sich der Wahrheit zu stellen, um sich zu sammeln und zu wappnen. Er fühlte, dass er jetzt bereit war, merkte, dass er aufbrechen wollte und wusste, dass es eilte.
Janick schluckte schwer; dann faltete er das Papier wieder zusammen, das ihm das Leben gerettet hatte, steckte es in die Seitentasche seines Gewands und schritt mit festem Blick zur Tür.
Der Flur war leer, kein Laut war zu hören.
Janick blickte unbehaglich den langen Gang hinab und empfand einen wahren Ekel vor der Farblosigkeit, der weißen Tapete, der weiß gestrichenen Decke und dem weißen Teppich. Diese unbefleckte Helligkeit wirkte wie blanker Hohn im Bewusstsein der düsteren Vorgänge, die sich hier im Verborgenen abspielten.
Janick wusste, dass er keinen brauchbaren Plan hatte. Von Wallenstein hatte ihm verraten, dass Judith bereits in die Zweite Abteilung gebracht worden war. Doch wie konnte er dort hineingelangen, um sie zu befreien? Jene Flügeltür war stets versperrt; er wäre gezwungen, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen, was schwerlich unbemerkt vonstattengehen konnte. Selbst wenn es ihm gelänge, heimlich in den abgeschlossenen Bereich einzudringen, wäre es schier unmöglich, Judith zu finden und hinauszubringen, ohne vom Wachpersonal entdeckt zu werden.
Ob sein Bruder hier war, wusste Janick, wie gesagt, nicht einmal mit Sicherheit. Vielleicht war er an einen anderen Ort gebracht worden. Vielleicht war er längst tot. Von diesen scheinbaren Heilanstalten, die in Wirklichkeit Gefangenenlager waren, gab es bestimmt zahllos viele, vermutlich allesamt tief unter der Erde verborgen und nahezu unauffindbar, wenn man nicht wusste, wo man zu suchen hatte.
Janick setzte sich langsam in Bewegung, ohne Lösungen für seine Probleme gefunden zu haben. Es blieb schlicht keine Zeit mehr zum Nachdenken; er musste handeln und hoffte, dass sich von allein ein Weg ergeben würde. Janick hatte noch nicht ganz die Nachdenklichkeit vom Gesicht gewischt, als sich plötzlich unweit vor ihm die Tür eines der linken Zimmer öffnete. Janick erstarrte und zog zischend Luft durch die Zähne ein, als hätte er sich an einem Streichholz verbrannt; er ballte die Fäuste, biss sich auf die Unterlippe und hoffte, es wäre nur ein Patient, im günstigsten Falle einer, der im Programm bereits fortgeschritten war und Janick vor Zerstreutheit gar nicht bemerken würde.
Doch diese Hoffnung blieb unerfüllt und seine größte Befürchtung trat stattdessen ein: Von Wallenstein trat mit flatterndem Kittel in den Flur. Er drehte Janick zunächst den Rücken zu und hätte ihn beinah übersehen. Doch im letzten Moment blickte er über die Schulter, da er seinen Lieblingspatienten offenbar aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte.
»Ach, der fleißige Herr Baumgartner!«
Geschwind wandte er sich um und ging mit fröhlicher Miene auf Janick zu.
»Sie waren nicht beim Frühstück, oder habe ich Sie übersehen? Auch beim Mittagstisch habe ich Sie vermisst. Ist Ihnen nicht wohl? Fehlt Ihnen etwas? Ich hätte früher nach Ihnen gesehen, seien Sie gewiss, doch andere Gäste waren dringlicher auf meine Hilfe angewiesen, die nicht so beispielhaft voranschreiten wie Sie!«
Von Wallenstein lachte und hatte sich Janick bis auf wenige Schritte genähert.
»Nun, was ist’s? Haben Sie Beschwerden? Übelkeit etwa oder gar ein wenig Fieber? Es liegt doch nicht an der Heilkapsel von gestern Abend? Sie wären der Erste, dem sie
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