Die Heilanstalt (German Edition)
Erleichterung, als hätte er gerade noch rechtzeitig die Blase entleert. Er fühlte sich berauscht, ähnlich dem Zustand der Trunkenheit, und hoffte, dass Judith es ihm nicht anmerkte. So gut dieser Rausch sich auch anfühlte, ahnte Patrick doch in der Tiefe seines Verstandes, dass er etwas Schädliches an sich hatte. In welcher Weise es auch beschaffen sein mochte.
»Ja … bist wohl die Einzige hier, die diesen Tee nicht ausstehen kann.«
Er vernahm seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne. Er wollte lächeln und merkte, wie unkontrolliert seine Gesichtszüge waren. Ein Gefühl der Machtlosigkeit überkam ihn. Doch es störte ihn nicht. Er fühlte sich auf sonderbare Weise geborgen, so als stützten ihn unsichtbare Arme, auf die er sich verlassen konnte. Sein Blick hing unkoordiniert in der Luft; nichts ließ sich fest fixieren. Patrick spürte die Ausdruckslosigkeit der eigenen Augen. Judith entging es nicht und – immerhin das sah er – an die Stelle ihres Lächelns trat ein besorgter Ausdruck, als hätte Patrick sich mit einem Messer geschnitten. Wider Erwarten bemerkte sie nichts dazu und rührte nur weiter in ihrem Joghurt, von dem sie hin und wieder einen Löffel in den Mund steckte.
Patricks Vernunft suchte den Rausch zu überwinden, doch gab diesen Kampf rasch als aussichtslos auf. Zu sehr strengte ihn diese Bemühung an, und zu angenehm war sein Zustand, den er in Wahrheit genoss wie nichts zuvor. Er bearbeitete den Speisenturm auf seinem Teller, bis er ihn fast vollständig vertilgt hatte. Anschließend rutschte er auf dem Stuhl ein Stück vorwärts, um sich mit beiden Händen den Bauch zu reiben.
Judith machte große Augen. »Respekt! Von diesem Berg hätte ich kaum die Hälfte geschafft.«
Patrick zog lachend die Brauen hoch. »So einen Kohldampf hatte ich lange nicht. Gestern war ein verflucht anstrengender Tag. Ich …«
Er verstummte, als er in seinem Gedächtnis wieder vor verschlossene Türen stieß. Der gestrige Tag war anstrengend gewesen … er war halb verhungert und völlig entkräftet gewesen. Er erinnerte sich an eine ungekannte Müdigkeit. Doch was war geschehen? Was hatte ihn so sehr erschöpft? Er war auf der Suche nach jemandem gewesen …
Tho… Thom…
Patrick fasste sich mit schmerzverzerrter Miene an die Schläfe. Judith sah ihn besorgt an.
»Alles in Ordnung?«
Er nickte zaghaft. »Es geht mir gut. Ich bin nur …«
Aber er ließ den Satz unvollendet. Er wusste nicht, was mit ihm war, wusste nicht, weswegen er hier war, wusste nicht, was vor seiner Ankunft in diesem Sanatorium passiert war. Ja, er wusste nicht einmal, wer er war. Judith, die auf irgendeine Weise zu ahnen schien, worunter er litt, erhob sich plötzlich.
»Komm, machen wir einen Verdauungsspaziergang. Ich zeige dir mal das ganze Gelände. Was hältst du davon?«
Patrick nickte dankbar. »Gern.«
Der Rausch war ein wenig zurückgegangen und seine Wahrnehmung wieder etwas schärfer. Während sie den Speisesaal durch eine Flügeltür verließen, über der in großen Buchstaben Freizeitzentrum geschrieben stand, fiel Patrick etwas ein.
»Sag mal, haben sie sich mit deinem Namen geirrt?«
Sie sah ihn verdutzt, ja erschrocken an. »Wie meinst du das?«
»Du hast gesagt, dein Name sei Judith. Aber auf deinem Gewand steht …« Dabei klopfte er sich auf die eigene Inschrift auf der Brust. »… Melanie Kahlbach.«
Mit einem Mal verlor sich alle Farbe in ihrem Gesicht; in ihren Augen glitzerte ein eigenartiger Schrecken. »Ja, natürlich«, flüsterte sie mit gesenktem Blick. »Ich heiße Melanie.«
»Aber du …«
»Komm jetzt! Es gibt hier einiges zu sehen, du wirst begeistert sein!«
Patrick war verwirrt, aber hakte nicht weiter nach; er glaubte, dafür bliebe noch genügend Zeit. Und so ließ er sich von Melanie, die er als Judith kennengelernt hatte, aus dem Speisesaal hinaus und hinein ins Freizeitzentrum führen.
Der Hof
Im ersten Moment glaubte Patrick, das Gebäude zu verlassen und an einem sonnigen Tag nach draußen zu gelangen. Der runde Hof mochte einen Durchmesser von hundertfünfzig Metern haben; er war mit weißen Natursteinen gepflastert und von einigen hölzernen Bänken gesäumt. In seinem Mittelpunkt ragte eine alte Linde auf, deren Krone einen breiten Schatten warf. Zwei nebeneinanderstehende Springbrunnen ließen mit einem statischen Rauschen Wasser in die Höhe sprudeln.
In regelmäßigen Abständen befanden sich fünf Flügeltüren in der Wand, wie sie in diesem
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