Die Heilerin des Kaisers
sie den Verlust mit Würde getragen, aber ihr Gemüt war immer noch tief verwundet. Beide waren gestorben, ohne dass ihre älteste Tochter sie noch einmal gesehen hatte.
Dietwulf hatte ihr durch einen reisenden Händler ausrichten lassen, dass Dietlinde in völliger geistiger Umnachtung das Nebenhäuschen, in dem sie mit Frowein lebte, in Brand gesteckt hatte. Qualvoll waren sie und Frowein darin verbrannt, ehe Hilfe kommen und das Feuer löschen konnte. Man erzählte ihr, die beiden verkohlten Leichname hätten in inniger Umarmung auf dem Bett gelegen…
Griseldis lebte mittlerweile in einer geräumigen Turmstube der Residenz, da sie seit dem Einbruch in ihr Häuschen dort nicht mehr schlafen wollte. Sie kam nur noch tagsüber dahin, um die Kranken zu versorgen. Die Heilerin hatte in ihrem neuen Zuhause auf einem Stuhl gesessen und in einem Buch über fiebrige Krankheiten, verfasst von einem spanischen Mönch, gelesen.
Jetzt richtete sie sich auf und ihr Blick schweifte aus dem offenen Fenster ihres Gemachs in luftiger Höhe. Die Gunst König Heinrichs erlaubte ihr, diese Kemenate allein zu bewohnen – normalerweise schliefen die Hofdamen gemeinsam in einem großen Schlafsaal, jeweils zu zweien in einem Bett.
Dieser Ausblick aus dem Turmfenster war jedes Mal ein Labsal für ihr verdunkeltes Gemüt. In lieblichem Frieden lag die ihr so vertraute, leicht gewellte Hügellandschaft; der Nebel hatte sich verzogen und kleine, rosige Wölkchen trieben am lichten Himmel dahin. Das Bamberger Land lag friedlich vor ihr im Dämmerschein dieses zu Ende gehenden Herbsttages im Jahr 1007.
Auf einmal zog ein riesiger Vogelschwarm an dem Turm vorüber, in dem auch ihre Apotheke untergebracht war. Schließlich verlor er sich in weiter Ferne. Das Schwirren der vielen kleinen Flügel blieb ihr noch eine Weile im Ohr haften und es war, als nähme ihre eigene Sehnsucht Gestalt an: Fliegen müsste sie können! Fliegen zum Himmel hinauf, zu Frowein und Dietlinde, ihren lieben Eltern, die sie so sehr vermisste. Das Wissen um beider schrecklichen Tod schmerzte immer noch so, als hätte jemand erst kürzlich ihre Wurzeln abgehackt.
Griseldis beugte sich weit hinaus, um den fortziehenden Schwalben nachzusehen. Schwindel erregend weit war der Blick von der Höhe. Tief unten am Fuß des Turms erstreckte sich der Burggraben, von der Mauer nur durch eine mit Brombeergestrüpp bewachsene Böschung getrennt. Wie stets am Abend war die Zugbrücke hochgezogen. Unnahbar und abgeschottet stand der alte Holz-und Fachwerkbau der königlichen Pfalz in der einsamen fränkischen Landschaft.
Nach Herrn Heinrichs Willen sollten in Zukunft noch viele Menschen hier ihre Heimat finden und ein blühendes Gemeinwesen sollte an diesem Ort entstehen. Griseldis seufzte, als sie das eintönige Rauschen des Windes hörte, der durch die bereits mit buntem Laub gefärbten Wipfel der alten Eichen und Buchen strich.
Die letzten Sonnenstrahlen waren hinter dem Horizont verschwunden und rasch begann es zu dunkeln. Im Gemach der einsamen Frau krochen die Schatten weiter aus den Ecken und Winkeln hervor, aber der Fensterausschnitt blieb noch hell.
Eine schmale, bleiche Mondsichel hing am Firmament; Griseldis reckte den Hals noch weiter nach vorne und ließ sich die kühle Abendluft ums Gesicht fächeln. Das brackige Wasser im Burggraben konnte sie schon nicht mehr sehen, nur seinen dumpfen, moosigen Geruch nahm sie noch wahr.
Plötzlich kam ihr eine Geschichte aus ihrer Kindheit in den Sinn, die ihr einst Muhme Bertrada erzählt hatte. Von gefährlichen Wassergeistern war die Rede gewesen, die in der Dämmerung die Lebensmüden an sich lockten und diese anschließend mit sanften, wohlklingenden Weisen in den Tod sangen…
Erschrocken zog die junge Frau sich in ihre Kemenate zurück. Ihr war auf einmal bewusst geworden, dass sie sich viel zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.
»Welch ein verantwortungsloser Leichtsinn«, tadelte sie sich selbst. »Das fehlte noch, dass die Heilerin des Königs in den Burggraben fiele und sich gar den Hals bräche oder aus Unachtsamkeit ertränke.«
Energisch schloss sie den mit einer dünn geschabten Kalbshaut bespannten Ausguck und entzündete drei Kerzen in einem prunkvollen Silberleuchter, den ihr König Heinrich letzte Weihnachten geschenkt hatte.
Im warmen Lichterschein fühlte sich Griseldis umgehend wohler. Ihre trüben Gedanken verflüchtigten sich und entschieden trat sie erneut ans Fenster, öffnete es und klappte
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