Die Heilerin des Sultans
von der Wand und drang weiter in
den Umkleideraum vor. Beinahe zögernd näherte sie sich dem
Spiegel in der nördlichen Ecke und betrachtete die schlanke
Gestalt darin. Unschlüssig zupfte sie an einem Ende des
Schleiers vor ihrem Gesicht und befreite sich von den Stoffbahnen,
bis ihr das eigene, ovale Gesicht mit den hohen Wangenknochen
entgegenblickte. Von dichten Wimpern umrahmte, blaue Augen musterten
den Bereich, wo ihr Körper sich von dem hellen Hintergrund
abhob. Vielleicht gab es eine ganz einfache Erklärung für
den Zauber. Aber egal, wie sehr sie sich anstrengte, es gelang ihr
auch dieses Mal nicht, eine Farbe um sich herum auszumachen. Nach
einer Weile gab sie seufzend auf. Warum hätte es ihr heute auch
anders ergehen sollen als all die ungezählten Male, die sie es
bisher versucht hatte? Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln
befestigte sie einen der dünneren Schleier wieder auf ihrem Haar
und faltete die übrigen Tücher sorgfältig zusammen. Da
der neue Hekim offenbar
in vielen Dingen noch unerfahren war, benötigte er häufig
die Hilfe der Tabibe –
was oft auch Sapphiras Anwesenheit im Bereich der Männer
erforderlich machte. Demzufolge war die Yashmak stets griffbereit, um
wenigstens ein Minimum an Anstand zu wahren. »Mach dir keine
Sorgen. Die Notwendigkeit erlaubt das Verbotene«, hatte die Tabibe ihre
Schülerin beruhigt. »Zur Zeit des Propheten haben Frauen
die im Krieg verwundeten Männer geheilt. Nicht einmal der Sultan
hätte etwas dagegen einzuwenden, dass wir die Janitscharen
behandeln. Wenn das Leben einer seiner eigenen Gemahlinnen bedroht
wäre, dürfte sogar ihre geheimste Stelle vor einem Hekim entblößt werden.«
Während sie sich diese Unterhaltung ins Gedächtnis rief,
spielte Sapphira geistesabwesend mit dem letzten der Schleier, bis
dieser ihr aus der Hand glitt und zu Boden segelte. Mit einem letzten
Zukneifen der Augen bückte sie sich danach, wandte sich zum
Gehen und beschloss, den jungen Militärsklaven so schnell wie
möglich zu vergessen. Sicherlich war es nur einem Zufall zu
verdanken, dass er ihr überhaupt aufgefallen war. Wäre er
in einer anderen Gruppe gewesen, hätte sie ihn vermutlich nicht
einmal bemerkt. Sie trat energisch zurück in den Hauptteil des Darüssifas, um
sich um die Fiebernden, Leidenden und Alten zu kümmern.
So
versunken war sie in ihre Aufgabe, dass sie die Rückkehr der Tabibe erst
bemerkte, als die Ärztin schimpfte: »Wenn dieser Kerl nur
halb so viel wüsste wie der alte Hekim, dann wüsste er immer
noch zehnmal so viel, wie er weiß.« Sapphira zog verwirrt
die Augenbrauen in die Höhe und stellte ein Glas mit einer
gelbweißen Kotprobe zur Seite, die sie bei einer Patientin mit
erhöhter Temperatur genommen hatte. »Es hätte nicht
viel gefehlt, und er hätte die Zahl der vollkastrierten Eunuchen
an einem Tag verdoppelt!« Ihr ansonsten ernstes Gesicht verzog
sich zu einer komischen Grimasse der Verzweiflung. »Ich kann
nur hoffen, dass sich die Jungen nicht allzu oft verletzen. So wie
der Bursche zu Werke geht, heilt der nicht mal einen verstauchten
Knöchel!« Ihre Brust hob und senkte sich heftig. Aber als
sie sah, wie schlecht es der Kranken ging, von der Sapphira die Probe
genommen hatte, wurde sie schlagartig ernst. »Es wird nicht
besser, oder?«, fragte sie besorgt und beugte sich über
die Frau, deren Augen einen ungesunden Gelbton aufwiesen. Die Haut
ihrer Arme war blutig gekratzt, und ihr Fieber war in den vergangenen
Tagen angestiegen. »Hast du ihr die Medizin gegeben?« Als
Sapphira bejahte, tastete sie den Hals der Kranken ab. »Wenn
sie nicht bald Besserung zeigt …,« hub die Ärztin
an, ließ den Satz jedoch unbeendet. Eine Zeit lang betrachtete
sie die schwer atmende Hofdame nachdenklich. »Bring sie ins Hamam «,
sagte sie schließlich, nachdem sie der Kranken erst am rechten
und dann am linken Handgelenk den Puls gefühlt hatte. »Lass
sie ein warmes Bad nehmen und dann sorge dafür, dass sie sich
bewegt. Die Diät alleine genügt nicht.« Mit einem
Griff unter die Achseln der geschwächten Frau half sie dieser in
eine sitzende Stellung und zog sie auf die zitternden Beine. »Das
Wasser wird die Schmerzen lindern«, versprach sie der Kranken,
die leise stöhnte, als Sapphira sie um die Taille fasste. »Es
sind nur ein paar Schritte«, ermutigte das Mädchen die
Patientin und führte sie langsam den Gang entlang. »So ist
es gut.« Mit Lob und guter Zurede gelang es ihr nach einer
scheinbaren Ewigkeit, die
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