Die Heilerin des Sultans
»Du
würdest staunen, wenn du wüsstest, was alles erlaubt ist,
sobald man eine gewisse Stellung im Harem innehat.« Sie wurde
wieder ernst. »Als meine Nachfolgerin musst du genau wie ich
die Zutaten für deine Arzneien selbst kaufen. Nicht alle Händler
wagen sich in den Palast. Einige von ihnen sind zu alt oder zu
furchtsam, um ihre Häuser zu verlassen.« Sie kam näher
und fasste Sapphira bei den Schultern. »Etwas Ablenkung wird
dir guttun.« Ihre stark geröteten Augen schienen durch
ihre Schülerin hindurchzusehen. »Ich mache mir Sorgen um
dich«, stellte sie fest. »Du schläfst kaum.«
Sie öffnete den Mund, um etwas hinzuzufügen, schloss ihn
jedoch wieder, ohne das gesagt zu haben, was Sapphira befürchtet
hatte. »Ich versuche, so viel wie möglich zu lernen«,
murmelte die junge Frau und griff nach ihrem Umhang, der neben der
Tür an einem Haken hing. »Ich weiß«, erwiderte
die Tabibe und
hakte sich bei ihr unter, damit Sapphira sie führen konnte.
»Zwei der Rekruten werden uns als Wächter begleiten«,
erklärte sie, und keine halbe Stunde später fand sich
Sapphira im Getümmel der Stadt wieder. Vorbei an den prunkvollen
Behausungen in der Umgebung des Palastes, drangen sie allmählich
zu dem im Zentrum gelegenen Markt vor, zu dem aus allen
Himmelsrichtungen Menschen strömten. Hunderte von Händlern,
Käufern, Bettlern und Kindern bildeten einen farbenfrohen
Flickenteppich, aus dem hie und da der lange Hals eines Kamels
herausragte. Zielsicher bahnte sich die Tabibe einen Weg durch die Menge und
steuerte nach einer Weile auf ein altes Männchen zu, dessen
Verkaufsstand ausgefranst und vernachlässigt wirkte. Sie nickte
dem dürren Greis zu, der sich tief vor den Frauen verneigte.
»Womit kann ich Euch dienen, Herrin?«, fragte er mit
einem bescheidenen Lächeln. Die Tabibe ließ den Blick über
seine Auslage wandern und erwiderte schließlich: »Ich
brauche vier Ampullen deines reinsten Schlangengiftes, zehn
Querfinger Mumienpulver, drei Skorpione und ein Dutzend
Straußeneier«, zählte sie auf. Nachdem sie eine
Weile mit ihm gefeilscht hatte, erhielt sie das Geforderte und führte
Sapphira tiefer in die Eingeweide des Bazars. »Für
Giftpflanzen und Kräuter ist Cadi bekannt«, informierte
sie ihre Begleiterin und machte am Ende einer Gasse vor einer
windschiefen Kate halt, die kaum größer war als der
angrenzende Stall. »Wartet hier«, trug sie den beiden
Bewaffneten auf und griff nach Sapphiras Hand. »Sie ist
schreckhaft wie ein Hase«, erklärte sie und schob das
Mädchen in einen winzigen Raum.
Dieser
wurde nur vom Schein eines schwachen Feuers erhellt, und Sapphira sah
die Alte erst, als diese sich aus den Schatten schälte.
» Tabibe «,
begrüßte das Kräuterweib die Heilerin und kam auf
einen Krückstock gestützt auf die beiden Frauen zu. Kleine,
wachsame Äuglein zuckten von der Ärztin zu Sapphira. »Wer
ist das?«, fragte sie misstrauisch und wich in den hinteren
Teil der Hütte zurück. »Das ist meine Cariyesi «,
sagte die Tabibe ruhig.
»Sie wird bald an meiner Stelle die Einkäufe tätigen.«
Einige Augenblicke schien es, als habe sich die Alte in Luft
aufgelöst, doch dann erklang ein meckernder Laut und sie trat
zurück ins Licht. »So jung, so jung und schon der
Heilkunst verfallen«, brabbelte sie und ließ sich
nacheinander nennen, was die Tabibe brauchte. Während sie in
geflochtenen Körben, Kisten und Tongefäßen kramte,
gewöhnten sich Sapphiras Augen allmählich an die Dunkelheit
und sie entdeckte eine halb verborgene Hintertür. Unerwartet
schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, der in seiner Kühnheit
erschreckend war. Wie lange würde es wohl dauern, bevor die
unerfahrenen Wächter misstrauisch würden? Was, wenn sie
oder die Tabibe einfach
verschwanden, während ihre Bewacher annahmen, sie befänden
sich noch in der Kate? Was, wenn sie einfach vor allem davonlaufen
würde? Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft im Palast vor
fast einem Jahr, dass ihr die Freiheit wieder als etwas
Erstrebenswertes und nicht als Strafe erschien. Sie sah sich
verstohlen um. Während ihre Augen einen umgestürzten
Kessel, morsche Bretter und einen mottenzerfressenen Vorhang
abtasteten, fragte sie sich, ob es tatsächlich möglich war,
in dem Gewirr von Gassen und Häusern unterzutauchen. Ein Blick
zurück zur Tür, vor der die Soldaten immer noch auf sie
warteten, genügte, um diese Frage zu bejahen. Möglich war
es bestimmt. Aber was dann?
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