Die Heilerin des Sultans
Decke starrten. Der beinahe mädchenhaft
weiche Mund hing schlaff offen, und nachdem die Heilerin an einem
Becher neben dem Bett gerochen hatte, bemerkte sie wissend: »Reiner
Mohnsaft. Er muss unvorstellbare Schmerzen leiden.« Ohne
weitere Vorrede schlug sie die dünne Decke zurück. Sapphira
entfloh ein fassungsloser Laut, als sie den blutverschmierten Verband
am linken Bein des Knaben erblickte – beziehungsweise an dem,
was von dem Bein des Jungen übrig war. Kurz über dem Knie
abgetrennt, stand das verstümmelte Glied in einem seltsamen
Winkel von einem Körper ab, dessen kräftige Muskeln in
seltsamem Gegensatz zu der grauenvollen Verwundung standen. »Höchste
Zeit, den Verband zu wechseln«, stellte die Tabibe ungerührt fest und
begann, die verschmutzte Binde aufzuwickeln. Als nach zahllosen
Schichten schließlich ein vereiterter, schlampig genähter
Beinstumpf zutage kam, schlug Sapphira die Hand vor den Mund und
taumelte in den Gang zwischen den Lagern zurück. Mit
butterweichen Knien gelang es ihr mit Mühe und Not, die Latrine
zu erreichen, wo sie vor einem der hölzernen Sitze auf die Knie
fiel und sich heftig erbrach. Als wolle ihr Körper sich von dem
Anblick reinigen, stieg Schwall um Schwall bitterer Galle in ihr auf,
bis sie schließlich erschöpft und zitternd in sich
zusammensackte und keuchend um Atem rang. »Heilige Mutter
Gottes«, presste sie abgehackt hervor und verzog das Gesicht,
als sich ein weiterer Krampf ankündigte. Dieser flaute jedoch
genauso schnell ab, wie er gekommen war, und sie hob schwach die
Hand, um sich mit aufeinanderschlagenden Zähnen den Schweiß
aus dem Gesicht zu wischen. Als gehöre der Arm einer anderen,
stellte sie bestürzt fest, dass der feine Stoff ihres Gewandes
von oben bis unten besudelt war. Was würde die Valide nur dazu sagen? Das
hysterische Wimmern, das in ihr aufstieg, raubte ihr erneut die
Kontrolle, und sie kroch bebend in eine Ecke des Raumes, um sich dort
zusammenzukauern.
Kapitel 22
Stunden
später riss ein unsanftes Rütteln Sapphira aus dem
unruhigen, von Albträumen geplagten Schlaf. Erschrocken fuhr sie
aus den Kissen auf und starrte die Gestalt vor sich an, als handle es
sich bei ihr um einen Geist. Erst als sich das Mädchen bewegte,
begriff sie, dass es sich keineswegs um einen Fleisch gewordenen Mahr
handelte, sondern um eine der Hospitalhelferinnen, die sich über
sie gebeugt hatte. Froh darüber, den schauderhaften Bildern in
ihrer Erinnerung zu entkommen, rieb sie sich die Augen und blinzelte
geblendet in die abgeschirmte Flamme einer kleinen Öllampe.
Nachdem sich der Anfall im Hospital gelegt hatte, war sie beschämt
zurück an die Seite der Tabibe geschlichen. Doch anstatt
die junge Frau zu schelten, hatte die Heilerin ihr befohlen, eine
Handvoll Salben und Tränke anzumischen – was den Rest des
Tages in Anspruch genommen hatte. Lange nach Einbruch der Dunkelheit
hatte sie sich erschöpft und rastlos zugleich in das Dormitorium
begeben, wo sie ohne einen Bissen zu essen auf ihr Lager gesunken
war. Wenngleich ihr hellwacher und überhitzter Verstand Sapphira
die schrecklichen Ereignisse des Tages immer und immer wieder vor
Augen geführt hatte, war sie schließlich in eine Art
Dämmerzustand gefallen, der irgendwann in einen oberflächlichen
Schlummer übergegangen war. »Wach auf«, drängte
die nächtliche Besucherin und zog an der Decke. »Die Tabibe verlangt nach dir.« Mit Beinen so schwer wie Blei
kämpfte Sapphira sich in die Höhe und schlüpfte
ungeschickt in die blaue Entari , die sie am Nachmittag gegen
die beschmutzten Kleider der Valide ausgetauscht hatte. »Du
brauchst einen Schleier – eine Yashmak«, versetzte
das andere Mädchen gewichtig. »Der Großwesir hat
nach der Tabibe geschickt. Er fürchtet, der Sultan liegt
im Sterben.« Diese Worte verscheuchten auch den letzten Rest
Müdigkeit, und die Sorge um das Wohl des Großherrn kehrte
mit überwältigender Macht zurück. Wie schlimm musste
sein Zustand sein, wenn er mitten in der Nacht nach einer weiblichen
Ärztin schicken ließ?, fragte Sapphira sich, bevor ihr
siedend heiß klar wurde, dass der schwer verwundete Hekimbaşi vermutlich noch nicht wieder in der Lage war, sich um seinen
Herrn zu kümmern. Angespannt und voller innerer Unruhe wand sie
sich die aus mehreren Tüchern bestehende Yashmak um den
Kopf, befestigte Sandalen an ihren Füßen und warf eine
dunkle Feraçe – einen fein gewobenen Mantel –
über die Schultern. »Komm«, flüsterte
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