Die Heilerin von Lübeck
aufbringen. Die ganze Familie würde ins Elend gestoßen werden.
Taleke nutzte die längere Wanderung in einen Teil von Lübeck, in dem sie bisher nur selten gewesen war, um sich ins Gedächtnis zu rufen, was sie über die Krankheiten der Haut gelernt hatte.
Nach der Säftelehre beruhten Hautveränderungen, wie alle anderen Krankheiten, auf einer Entgleisung des natürlichen Gleichgewichts, auf einer Verdorbenheit der Säfte. Was auch immer die Säfte verdarb: Das Schädliche musste wieder aus dem Körper hinaus. Aber da die beiden Geistlichen nichts Schädliches entdeckt hatten, das mit Hilfe von Gebeten und Fürbitten sowie von Almosen an die Domkirche ausgetrieben werden konnte, blieb aus ihrer Sicht als Erklärung nur die Miselsucht.
Razes jedenfalls hatte für die Behandlung von Kinderblattern und Kinderflecken eine Fülle von Ratschlägen gesammelt: wie der Ausschlag verhindert werden konnte, wie man Narben vermied und wie sich die Hautveränderungen entfernen ließen. Da war keine Rede von Gebet und Austreiben, sondern handfest von Myrrhe, Knoblauch, Meerschaum, Bittermandel und tausend anderen Zutaten, die von einem Apothecarius beschafft werden konnten.
Taleke war seit längerem zu der Überzeugung gekommen, dass Krankheiten nicht vom himmlischen Herrn als Strafe für Sünden geschickt wurden. Im heidnischen Morgenland wurden Krankheiten nüchtern als solche bezeichnet und behandelt. Razes hatte recht. Der kleine Ote war Beweis genug.
In unmittelbarer Sichtweite des Doms wandte sich der Schiffer zur Trave, und es ging bergab. Die steinernen Wohnhäuser der Kapitelangehörigen wurden weiter unten von den Holzhäusern der Schiffer abgelöst. Zu Talekes Überraschung strebte der junge Mann zu einer schäbigen Bretterbude, die als Überrest aus alter Zeit wie ein Fremdkörper zwischen den neueren Bauten wirkte. Hier fristeten arme Leute ihr Leben.
Nese, die überraschend jung war angesichts des erwachsenen Sohnes, lag zu Bett, womit ein Hautausschlag, mochte er noch so hartnäckig sein, eigentlich nichts zu tun haben konnte. Talekes verstohlene Blicke wanderten im Dämmerlicht der Hütte umher. Es war kalt und feucht, das Feuer auf einem Sockel in der Mitte der Hütte wurde offensichtlich nur genährt, um es am Leben zu halten – Wärme gab es nicht ab. Der Sohn war verschwunden, ohne dass Taleke es bemerkt hatte, und der alte Schiffer war auch nicht da.
Es roch nach Schwelbrand und muffigem Stroh, nach Urin und anderen Ausdünstungen, obwohl sich keine Tiere im Raum befanden.
»Ich habe von dir gehört«, stieß die Kranke keuchend hervor und reichte Taleke die Hand, die unter der dünnen Wolldecke gelegen hatte. »Danke, dass du gekommen bist.«
Taleke nickte und setzte sich auf einen Hocker, den sie an das Wandbett herangezogen hatte. Sie betrachtete die eiskalte Hand der Kranken. Sie war verschorft und braun von verdorrter Haut. »Darf ich die anderen Stellen auch sehen, über die du Beschwerde führst, Frau Nese?«, fragte sie höflich. »Und erzähle mir doch bitte, was du sonst noch an deinem Körper beobachtest.«
In diesem Augenblick fuhr Neses Hand unter die linke Achsel, wo sie sich ausgiebig kratzte. »Diese Teufel überfallen mich meistens nachts, wenn ich endlich ein bisschen Wärme gefunden habe«, klagte sie. »Und dann muss ich kratzen, kratzen, kratzen.«
Krätze? »Lass mich sehen«, bat Taleke.
Die Haut in der Achsel hatte sich weniger verändert als die der Hand. Taleke sah im Schein eines Talglichts feine rötliche Linien, die eines Tages sicher ebensolchen Schorf bilden würden wie an der Hand. Vor Talekes Augen erschien die Anmerkung, die sie einmal in Paris gelesen hatte: Was die Krätze betrifft, so kommt es dazu bisweilen durch Unterlassen des Badens und durch den Schmutz des Körpers.
»Miselsucht sieht anders aus«, urteilte Taleke mit felsenfester Überzeugung. »Die hast du nicht. Bei einem Miselsüchtigen sind die krankhaften Stellen taub, er spürt nichts, schon gar keinen Juckreiz!« Aber bei beiden Krankheiten war die Unsauberkeit schuld. Auch der Mönch in Schwartau hatte sie davor gewarnt, nur hatte sie damals natürlich nicht verstehen können, was er meinte. Anscheinend lasteten die meisten Menschen jedoch gerne dem Herrn alles an, damit sie sich nicht selbst darum kümmern mussten.
»Der Herr sei mit dir«, flüsterte Nese dankbar.
»Habt ihr einen großen Zuber, in dem du baden kannst? So heiß wie möglich.«
»Wir haben Fässer, in denen wir Fische
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